von Annika Grützner
Bücher versetzen uns in fremde Welten. Der weißrussische Autor Viktor Martinowitsch nimmt diese Aussage in seinem dystopischen Roman „Mova“ so ernst, wie es nur geht, und lässt die Menschen in seiner Geschichte durch die sogenannten Mova-Texte high werden. Der Inhalt dieser Briefe ist gleichgültig, immer geht es darum, durch das Lesen in einen Rauschzustand zu geraten und die öde Umgebung für einen Moment hinter sich zu lassen. Kein Wunder also, dass die bestimmten Bücher, aus denen die Mova-Texte entnommen werden, teure Mangelware sind. In „Mova“ besuchen wir die Stadt Minsk, eine Provinzmetropole des chinesisch-russischen Unionsstaates, des Jahres 2044 durch die Augen zweier Protagonisten: die des Dealers und des Junkies. Beide sind in ihrem Alltag unwiderruflich mit der Droge verknüpft, beide gelangen mehr und mehr in einen Strudel aus mafiösen Strukturen, bedrohlichen Hintermännern und staatlichen Kontrollen, die ihnen keine Ruhe lassen.
Die größte Entdeckung in „Mova“ ist wohl die Droge selbst – Mova ist übrigens das weißrussische Wort für „Sprache“, was also könnte besser als Namen passen? Leider verliert sich der Roman allerdings schnell in eine zähe Aneinanderreihung von Situationen, die die Geschichte nicht wirklich voranbringen und sich immer um zwei Dinge drehen: Wie komme ich an die Droge und was bewirkt sie? Wie habe ich die Droge über die Grenze geschmuggelt und wie viel hat es gekostet? So verschenkt der Roman doch sehr viel an Potenzial für die Handlung. Wirklich toll ist allerdings die Botschaft, die hinter dem in Belarus scharf kritisierten Buch steckt, das tatsächlich erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurde, bevor es im Original erschien: Sprache und das Lesen eröffnen uns neue Freiheiten und Welten, die uns unseren Alltag vergessen lassen. Zwar ist es in „Mova“ eine abhängig machende Droge, doch auch ohne können Bücher uns in einen Rausch bringen.
(Die erste deutsche Übersetzung des Buches erschien als Hardcover übrigens bei Voland & Quist.)
Iwan Ogarjow ist eine tragische Figur im falschen Leben. Als Kind von den Eltern ungeliebt, allein gelassen und missverstanden, erarbeitet sich der junge Mann als Arzt in der Sowjetunion ein Leben im Wohlstand, heiratet eine Frau, die er nicht liebt und lässt Tag um Tag im Trott des Alltags vergehen. Bis er mit der jungen Malja die Liebe seines Lebens trifft. Iwan bricht auf, in ein neues Lieben, mit einer neuen Liebe. Doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht so einfach ziehen.
Mit „Italienische Stunden“ hat die russische Autorin Marina Stepnowa eine feinfühlige Erzählung über das Leben geschaffen, die vollkommen in ihrer Tragik aufgeht. Von Anfang an beschwört sie treffend das Bild der trostlosen Leben ihrer Protagonisten auf, schreibt von engen Wohnungen, in denen Ehen zerbrechen, von Beziehungen, die ohne Liebe entstehen. Ihre Figuren folgen ungeschriebenen Vorgaben, dürfen fast schon nicht glücklich sein. Iwan ist in dieser Konstellation der Erste, der aus dem Muster ausbricht und sein Glück leben will. Dabei legt die Autorin den Fokus oft auch auf kleine Bilder, die die Verbindung zwischen den Charakteren verdeutlichen, ohne zu werten. Da gibt es zum Beispiel den kindlichen Iwan, der noch nie zur Schule gebracht oder von dieser abgeholt wurde und seine freie Zeit mit der Nase in den Büchern der großen russischen Klassiker verbringt, den Soldaten Iwan, dem man empfiehlt, Offizier zu werden, denn als unterster Kämpfer würde er zu viel nachdenken und schließlich der Erwachsene Iwan, der Kinder behandelt, seine Frau aber darum bittet, keine Kinder in die Welt zu setzen. Sie alle zeigen uns die zerbrechliche Psyche eines Mannes, der sich eigentlich aufgegeben hat.
Bereits sieben Jahre vor dem wirklichen Tod der Großmutter bereitet die Familie auf Wunsch von „Nana“ in Elvira Mujčićs „Balkan Blues“ die Bestattung nach muslimischen Brauch vor. Als der traurige Tag dann schließlich eintritt, ist das (emotionale) Chaos groß: Das Beerdigungsunternehmen, dass den Körper von Italien nach Bosnien bringen sollte, existiert nicht mehr, die Familie ist in ganz Europa verteilt und die drei Geschwister (und Enkelkinder) müssen sich innerhalb kürzester Zeit in die alte Heimat begeben, um es rechtzeitig zur Beerdigung zu schaffen. Es beginnt ein urkomischer Roadtrip.
Das Ziel von Lania und ihren beiden Brüdern ist Srebrenica. Der Ort des Massakers an der muslimischen Minderheit. Der Ort, an dem ihre Großeltern ein Haus bauten, eine Familie gründeten, den sie Heimat nannten und aus dem sie schließlich vertrieben wurden, bis heute unwissend um das Schicksal ihrer beiden Söhne und weiterer Familienmitglieder.
„Balkan Blues“ ist eine heitere, selbstironische Erzählung, dennoch bindet die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende und in Italien lebende Autorin Elvira Mujčić in zarten Nuancen die Schrecken der Vergangenheit und des Krieges ein. Da sind die vielen Briefe des Roten Kreuzes, die sich im Nachttisch befinden und von der erfolglosen Suche des Vaters der Geschwister zeugen, die vielen weißen Kreuze auf den Feldern neben der Straße, die auf den letzten Kilometern vor dem Ankommen von Lania und ihren Brüdern von den Ermordeten des Ortes erzählen, die Frage nach der Identität der Überlebenden, nachdem es das Land ihrer Kindheit und Jugend nicht mehr gibt. Dennoch bietet „Balkan Blues“ viele komische Momente, immer mit dem Fokus auf die Zukunft.