
Jáchym Topol ist einer der bekanntesten Schriftsteller Tschechiens und war zu Zeiten des Sozialismus im Untergrund aktiv. Als Freund von Václav Havel gehörte er zu den Gründern der Charta 77 und leitet heute die Havel-Bibliothek in Prag. Seit Kurzem liegt sein Roman „Ein empfindsamer Mensch“, für den er 2017 den Magnesia Literaturpreis erhielt, in deutscher Übersetzung im Suhrkamp Verlag vor. Topol erzählt darin von dem atemlosen Roadtrip einer Schaustellerfamilie, der in die tschechische Provinz führt.
K.H.: Herr Topol, können Sie uns etwas über den Titel ihres Romans „Ein
empfindsamer Mensch“ erzählen?
J. T.: Ein „empfindsamer Mensch“ ist ein Mensch, der nur in einer Gemeinschaft existieren kann.
K.H.: Sie haben diesen Roman in einer Hütte auf dem Land bei Sázava geschrieben?
J.T.: Meine Kindheit habe ich auf dem Land verbracht. Ich wollte über diese verschwindende Welt schreiben, in der die Gemeinschaft eine so wichtige Rolle spielt.
Als ich begann, in der Hütte zu arbeiten, war sie bloß eine Ruine – aber mit Kamin!
Es ist wunderbar, wenn man das Schreiben unterbrechen muss, um Holz für den Ofen zu hacken. Man fühlt sich wie Jack London, trifft auf seltsame Menschen im Wald und hat eine Abwechslung von den Stunden am Computer.
Natürlich könnte man auch Rad fahren, aber der Weg führt allzu schnell in die nächste Kneipe und zu mehreren Bieren. Das ist gefährlich.
Eine Zeit lang dachte ich, ich könnte nach Beendigung des Buches im Dorf leben und ein weiser alter Mann werden, der Bäume pflanzt.
K.H.: Haben Sie auch die Inspiration zu den Charakteren des Romans in dem Dorf
gefunden, in dem Sie das Buch geschrieben haben?
J.T.: Ja, jedes bizarre Element und jede verrückte Anekdote im Roman basieren auf einer realen Begebenheit. Ich war in meiner Jugend unter anderem Heizer und Arbeiter in der Fabrik und weiß, in welcher Sprache hart arbeitende Menschen abends in der Kneipe miteinander sprechen. Das hat mir natürlich sehr geholfen, mit den Leuten in Kontakt zu treten. Eine der Figuren ist zum Beispiel von meinem Nachbar inspiriert, der mir von seiner Idee erzählte, auf seinen Feldern ein Expresshospiz zu bauen.
Jetzt, wo das Buch veröffentlicht ist, und ich im Fernsehen zu sehen war, kann ich mich allerdings nicht mehr in diesen Kneipen sehen lassen. Jetzt bin ich nicht mehr der Kumpel, dem man sein eigenes Elend erzählt, sondern der Schriftsteller aus Prag. Das ist ein bisschen traurig, aber vielleicht auch ganz gut so. Immerhin kann ich jetzt aufhören zu trinken.
K.H: Im Roman kommt ein kleiner Junge vor, der nicht mehr wachsen kann. Ist das eine Anspielung auf Oskar Matzerath aus Günther Grass’ „Die Blechtrommel“?
J.T.: Eine bewusste Anspielung war das nicht, aber vielleicht hat sie sich unbemerkt eingeschlichen, weil die Blechtrommel zu den Büchern gehört, die mich am meisten beeindruckt haben. Als Teenager war ich mit der Tochter von Jiří Gruša befreundet. Gruša war ein dissidenter Poet, der später Botschafter wurde. Als er vorübergehend inhaftiert war, stahl ich die „Blechtrommel“ aus seiner Bibliothek. Das war damals ganz normal. Wenn jemand im Gefängnis saß, hat man sich alles „ausgeliehen“.
K.H.: Ihr neuester Roman wird oft mit Ihrem 1998 erschienenen Buch „Die Schwester“ verglichen. Können Sie sich das erklären?
J.T.: Nein! Es ist viel Zeit vergangen, seit ich die „Schwester“ geschrieben habe. Damals wollte ich experimentieren, war fasziniert von James Joyce und William S. Burroughs. Der neue Roman ist im Gegensatz zu der „Schwester“ kontrollierter, leichter und vor allem handelt er von der Gegenwart. Viele AutorInnen finden heute, dass es unmöglich sei, einen Roman über die Gegenwart zu schreiben, weil sich alles so schnell verändert. Aber ich glaube nicht an diese Unmöglichkeit. Die grundlegenden Themen währen doch immer fort: Liebe, Irrsinn, Einsamkeit. Aber insbesondere in Tschechien schreiben alle über die Vergangenheit, was natürlich auch an den vierzig Jahren Sozialismus liegt. Einen anderen Grund dafür sehe ich in den neuen Informationsquellen. Früher musste man lange Strecken zurücklegen, um in diversen Bibliotheken Material für einen historischen Roman zusammen zu tragen. Heute zieht man alles aus dem Internet.
Ich finde diese ewige Vergangenheitsaufarbeitung ziemlich langweilig. Die Gegenwart ist doch faszinierend!
K.H.: Der ehemalige tschechische Staatspräsident, Václav Klaus, hat Sie öffentlich
wegen des Buches angegriffen und in einem Zeitungsartikel behauptet, Sie würden Tschechien in den Schilderungen des Landlebens in ein schlechtes Licht rücken. Was sagen Sie dazu?
J.T.: Ich hasse Politik. Während des sogenannten Kommunismus war ich politisch aktiv, weil es nötig war. Nun würde ich gerne damit abschließen. Leider scheint das aber unmöglich. Václav Klaus hat mich in der Sprache des alten kommunistischen Systems attackiert, in genau demselben totalitären Duktus.
K.H.: Viele Ihrer Bücher sind im Ausland entstanden …
J.T.: Ein Schriftsteller ist wie eine Schildkröte. Man muss sich absolut zurückziehen können, und in einem Land, in dem man die Sprache nicht versteht, wird man mit seinen Gedanken alleine gelassen. Das ist die perfekte Isolation. Einige meiner Romane sind im Rahmen von Stipendien entstanden, aber diesen Roman habe ich ohne die Unterstützung von Stipendien geschrieben. Nach Abschluss des Buches war ich einen Monat lang zu Gast im Literarischen Colloquium Berlin. Das ist eigentlich die bessere Reihenfolge – erst das Schreiben, dann die Erholung. Viele junge AutorInnen bekommen ein Stipendium nach ihrem ersten Buch, wandern dann von Förderung zu Förderung und sind plötzlich vierzig Jahre alt, ohne jemals ein echtes Leben geführt zu haben. Das ist doch seltsam – selbst Franz Kafka ging jeden Morgen ins Büro.
K.H.: Was möchten Sie uns junge AutorInnen empfehlen, die bisher noch weitgehend unbekannt sind?
J.T.: Eine Autorin, von der ich wirklich begeistert bin, ist Vladimíra Valová. Sie kommt aus der tschechischen Provinz und hat einen Kurzgeschichtenband veröffentlicht. Ich habe mich immer gefragt, ob es heute noch möglich sei, Kurzgeschichten zu schreiben, wie die Giganten Issac Babel oder Anton Tschechow es getan haben. Die Antwort kam von einer jungen Autorin aus der tschechischen Provinz und sie lautet: ja.
K.H.: Können Sie uns etwas zu Ihren nächsten Projekten verraten?
J.T.: Mein Leben war sehr abenteuerlich, daher gäbe es viel Material für Kurzgeschichten. Anfang der Neunziger Jahre war ich als Journalist in den Kriegsgebieten Vietnams und Kambodschas unterwegs. In Grönland habe ich mit Inuit Rentiere gejagt. Allerdings befürchte ich, dass sich aus einer solchen Kurzgeschichte wieder ein langer Roman entwickeln könnte.
Das Interview führte Katharina Haase.
Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren und Sohn des Dramatikers Josef Topol, war nicht nur der Star des literarischen und musikalischen Underground vor 1989 sondern ist auch heute noch der bekannteste tschechische Autor seiner Generation. Als Sechzehnjähriger unterzeichnete er die Charta 77, 1985 begründete er das Underground-Magazin Revolver Revue, seine Zeit als Wehrpflichtiger verbrachte er mit anderen Intellektuellen in der Irrenanstalt, er arbeitete als Heizer und Lagerarbeiter. In den 90er Jahren studierte er Ethnologie und bereiste zwischen 1989 und 1991 als Journalist für die Wochenzeitung Respekt und Drehbuchautor Osteuropa. 1988 erschien in Samizdat sein erster Gedichtband Ich liebe Dich bis zum Irrsinn, 1992/93 folgten Am Dienstag gibt es Krieg und Ausflug zur Bahnhofshalle. Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte er mit dem Roman Die Schwester; es folgten Engel EXIT, Nachtarbeit, Zirkuszone und Die Teufelswerkstatt. Topol lebt in Prag.
Titel: Ein empfindsamer Mensch (Original: Citlivý člověk)
Autor: Jáchym Topol
Übersetzerin: Eva Profousová
Verlag: Suhrkamp
Was J_T über die Schildkrötenform der Schriftstellerei sagt ist super. Starke Worte….
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