Drei Graphic Novels aus und über Mittelosteuropa

Nicht nur im französisch- und arabischsprachigen Raum entstehen wunderbare Graphic Novels, sondern auch die Gegenwartsliteratur aus Mittelosteuropa hat zahlreiche spannende Titel zu bieten. Dieser Beitrag versammelt exemplarisch drei von in den letzten Jahren erschienen Büchern und hofft darauf, dass bei der LeserInnen noch mehr Interesse zu diesem besonderen Genre der Literatur geweckt wird.

von Irine Beridze

9783956400452

In ihrer Graphic Novel „Palatschinken. Die Geschichte eines Exils“ (Reprodukt Verlag, 2015) beschäftigen sich Caterina Sansone und Alessandro Tota mit der Familie von Caterina, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat, das heutige Rijeka in Kroatien, Richtung Italien verlassen muss.

Sansone als Fotographin und Tota als Comiczeichner ergänzen sich wunderbar in dieser Graphic Novel gegenseitig und schaffen ein sehr intimes, teilweise tragisches und zugleich heiteres Bild von Caterinas Familie, die im italienischen Exil mit verschiedenen Schicksalsschlägen konfrontiert wird. Exil, Erinnerung, Gedächtnis, Spurensuche, Trauma, Sehnsucht, Kindheit – dies sind nicht alle Schlüsselwörter dieser Reise in die Vergangenheit, die das Autorenpaar für dieses Buchprojekt startet.

Die Stadt Fiume (heute Rijeka) hat eine komplexe Geschichte. Mal gehörte sie zu Österreich-Ungarn, mal zu Italien oder zur Volksrepublik Jugoslawien, heute liegt sie allerdings in Kroatien. Sie ist die Kindheitsstadt von Sansones Mutter, einer julisch-dalmatischen Exilantin und für sie ein Märchenland. Als sie auf ihrer Recherchereise für das Buch endlich nach Fiume kommt, liest die Autorin auf einem Schild das Wort „Palacinke“ (Palatschinken) und wird im gleichen Augenblick mit den Erinnerungen aus ihrer Kindheit konfrontiert. Dampfende Pfannkuchen, von ihrer Mutter liebevoll zubereitet, die auch im Exil zur gemeinsamen Essenstradition gehören:

„Das sollte der Ausgangspunkt werden, dieses typisch osteuropäische Gericht, das wie so viele andere österreich-ungarische Gerichte auf den Tellern der Familien aus Istrien landete. […] Dieses Gericht hat zusammen mit Liedern, Sprichwörtern, und Erinnerungen die Grenze überquert, als kulturelles Gepäck eines Volkes im Exil.“

Die Mutter Elena steht in dieser graphischen Erzählung im Mittelpunkt. Ihre Geschichte wird hier sehr vorsichtig rekonstruiert. Das Leben einer Frau, die zwölf Jahre in verschiedenen Flüchtlingslagern verbringen musste. Elenas Mann Vittorio kommt hier ebenfalls zu Wort. Die Fotos aus dem Familienarchiv der Autorin präzisieren und ergänzen durch ihre visuelle Dimension diese besondere Familiengeschichte. Natürlich darf aber auch das klassische Rezept von Palatschinken nicht fehlen.


 

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Beim Avant Verlag ist letztes Jahr eine besonders faszinierende Graphic Novel von Simon Schwartz erschienen. Im „IKON“, dessen Text und Zeichnung dem Autor selbst gehört, wird den Lesern die Geschichte der von den Bolschewiken brutal ermordeten russischen Zarenfamilie präsentiert. Die Handlung wird aus der Perspektive von Gleb Botkin erzählt, der sich als Sohn des Leibarztes des russischen Zaren im Zentrum der grausamen Ereignissen befindet. Gekonnt verschmilzt Schwartz hier die Grenze zwischen Realität und Fiktion und platziert die Zarentochter Anastasia, in die Gleb Botkin verliebt ist, im Mittelpunkt des vielschichtigen Narrativs. Anastasia ist die Tochter des Zaren, um die in der ganzen Welt lange nach der Hinrichtung der ganzen Familie die Gerüchte herumgingen, sie hätte das Attentat überlebt.

Der Autor erzählt hier nicht chronologisch und baut damit Stück für Stück die Spannung auf, die bis zur letzten Seite des Buches nicht an ihrer Wucht verliert. Wir sind im Prolog irgendwo im Ural im Jahr 1918 und beobachten die Szenen, wie Gleb in einem orthodoxen Kloster von den Mönchen gerettet wird, um dann über ein kurzes Kapitel zu Berlin 1920 in St. Petersburg des Jahres 1916 zu landen. Die Revolution ist noch nicht passiert und in der Zarenfamilie herrscht noch Frieden. Später sind wir in Charlottesville, wo Gleb Botkin 1928 die „Church of Aphrodite“ gründet.

Das Bild dominiert hier eindeutig über den Text, was durch seine besondere Ästhetik erreicht wird. Unglaublich lebendig werden hier die einzelnen Figuren gezeichnet. Besonders deren Gesichtsausdrücke sind es, die am meisten faszinieren. So ist die angebliche Großfürstin Anastasia Nikolajewna Romanowa und ihre „irren” Augen nicht so einfach nach dem Lesen des Buches aus dem Kopf zu bekommen. Faszinierend fließend wechselt hier der Autor zwischen dem klassischen Stil der Graphic Novel in die Ästhetik der russischen Ikonenmalerei. Man möchte möglichst wenig von dieser sehr lesenswerten Graphic Novel verraten, damit jeder Leser/jede Leserin das ganze Geheimnis und die ganze Wucht der Erzählung selbstständig auf sich wirken lässt.


 

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Ebenfalls im Avant Verlag (2015) erschienen ist Nina Bunjevacs Autobiographie „Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada“. Die Graphic Novel erzählt in einem persönlichen Stil die Familiengeschichte von der Autorin, die sich in der Heimat, im Exil und letztlich wieder zurück in der Heimat abspielt. Mit der Familiengeschichte wird ein Stück der Geschichte von Jugoslawien und eine persönliche Suche nach der Vaterfigur gezeichnet, die lange mit einem dunklen Schatten umhüllt war. Wer war der Mann, von dem die Mutter samt ihrer Kinder im Jahr 1975 aus dem kanadischem Exil zurück in das sozialistische Jugoslawien fliehen musste und die nach vielen Jahren in einem Gespräch mit Ihrer Tochter feststellen muss: „Es war, als ob du aus einem Gefängnis geflohen bist, nur um festzustellen, dass du wieder in einem lebst.“

Der Vater Peter Bunjevac stellte sich nach der Heirat als eine politisch stark engagierte Person heraus. Wegen seiner antikommunistischen Ansichten muss er nach dem Zweiten Weltkrieg Jugoslawien verlassen, kommt aber auch nicht in Kanada zur Ruhe und findet sich in einer terroristischen Gruppe wieder. Gewalt, Alkoholabhängigkeit und Fanatismus führen den Familienoberhaupt zu einer Sackgasse, von der man nie mehr wegkommt.

Bunjevac zeichnet neben ihrem Vater starke Frauencharaktere, die in den existenziellen Situationen stets einen Ausweg finden. Eine zutiefst intime Erzählung über eine unruhige Zeit des 20. Jahrhunderts.

 

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  1. Sehr interessanter Beitrag ! Ich finde dass dieser Teil Europas in den Buchhandlungen fehlt!

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