Kateřina Tučková „Gerta, das deutsche Mädchen“

Immer mal wieder gibt es Bücher, deren Übersetzung ins Deutsche überfällig war. Der Roman „Gerta, das deutsche Mädchen“ von Kateřina Tučková ist einer davon. Bereits 2009 unter dem Titel „Vyhnání Gerty Schnirch“ [Die Vertreibung der Gerta Schnirch] erschienen, beschäftigt sich der Roman mit der Vertreibung der Deutschen aus Tschechien nach 1945 und ist pünktlich zur Leipziger Buchmesse, auf der Tschechien das Gastland ist, auf Deutsch im Berliner KLAK-Verlag erschienen. 

von Ruben Höppner

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Zu Beginn des Romans findet sich Gerta, die Hauprotagonistin auf einem staubigen Feldweg und fragt sich erschöpft: „Wo hatte dieser Albtraum eigentlich begonnen?“ Der Albtraum, von dem der vorliegende Roman erzählen will, beginnt in der zweisprachen Familie Schnirch, die ihm mährischen Brünn/Brno lebt, wo es zu der Zeit eine große deutschsprachige Minderheit gibt. Die Familie ist diametral in zwei Lager geteilt, Gertas Mutter ist Tschechin, ihr Vater Deutscher und zusammen mit dem Bruder flammender Anhänger Hitlers. Die Familienkonstruktion steht synekdochisch für die Brünner Gesellschaft, die nach der Errichtung des deutschen Protektorats 1938 in einen tschechischen und einen deutschen Teil zerbricht. Die Nazifizierung Brünns tritt neben der Übernahme aller Institutionen auch in den privaten Raum der Familie ein, indem der Vater verbietet, tschechisch zu sprechen, obwohl es in der damaligen Zeit für viele Familien normal war, beide Sprachen zu sprechen. Die Sprache, an der die persönliche Identität abgearbeitet wird, zieht sich durch den ganzen Roman, indem erst Deutsch und schließlich auch Tschechisch auf der einen Seite die Sprache der Täter, auf der anderen Seite gleichsam der Opfer wird und diese Spannung beispielhaft an Gerta zu zerreißen droht. Gertas Mutter stirbt relativ bald und Gerta wird von ihrem nun alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater vergewaltigt und geschwängert. Ihr Bruder wird Soldat und kämpft für die Nazis. Und als der Krieg schließlich mit einem Bomben-Getöse vorbeigeht, heißt es: „Das war nicht mehr die Stadt im ständigen Spagat zwischen deutschen und tschechischen Befindlichkeiten.“ Gerta wird wie tausende Deutsche nach dem Krieg zur Staatsfeindin erklärt, interniert und in der Nacht vom 30. zum 31. Mai 1945 auf den später sogenannten „Brünner Todesmarsch“ geschickt.

Der zweite Teil des Romans beschreibt den Marsch, wo Gerta Zeugin von Vergewaltigungen und Misshandlungen wird. Ausgelaugt schleppen sie sich durch kleine Dörfer, wo die ansässige Bevölkerung versucht, ihnen Wasser zu geben. Aber da ist das Vertrauen schon dahin. Nach einem längeren Aufenthalt im Ort Pohrlitz/Pohořelice, der als provisorisches Konzentrationslager für die Vertriebenen diente, überleben Gerta und ihre Tochter mit anderen deutschen Frauen, indem sie als Zwangsarbeiterinnen auf dem Land dienen. In dieser fast schon ländlichen Idylle können die Frauen, da sie für die Dorfbevölkerung wichtige Arbeitskräfte sind, überleben. Sie werden von einer alten Frau aufgenommen, die ihnen Verständnis entgegenbringt und Schutz vor der teilweise xenophoben Dorfbevölkerung bietet.

Im dritten Teil können Mutter und Tochter Jahre später in die fremd gewordene Heimatstadt zurückkehren. Gerta wird von Karel unterstützt, den sie von früher kennt und ist für einen Moment sogar glücklich:

Die kurze Zeit mit Karel war das Schönste, was sie bis dahin erlebt hatte. Gestohlene Stücke vom Glück, Scherben von Augenblicken, die er über den Tag für sie aufgesammelt hatte, Schimmer von Glückseligkeit, wenn sie in seinen Armen gelegen hatte, all das kam zurück.

Aber das Glück währt nicht lange. Sie überzeugt Karel davon, sich die „offiziellen“ Zahlen der Todesopfer des Marsches nochmal anzugucken, was er wegen seiner Funktion auch kann. Gemeinsam finden sie heraus, dass die Zahlen nicht stimmen. Karel jedoch stößt an die Grenzen der kommunistischen Partei, die sich für das Herausgefundene nicht interessiert, denn es geht ja „um unsere junge Republik“. Karel verschwindet wieder aus ihrem Leben und so zieht sie ihre Tochter allein auf und exkludiert ihren deutschen Teil vollkommen aus dem Leben.

61q4cniWHPLDer vorletzte Teil entwickelt sich zu einer umfassenden Diskussion, ob und wie Versöhnung möglich wird. Besonders vorangetrieben von Gertas Enkelin scheint sich etwas in Bewegung zu setzen, obwohl Gerta und auch ihre Tochter, die sozialistisch linientreue Barbora, nicht wirklich daran glauben. Besonders auffällig wird in diesem Abschnitt, dass der Roman mit seinen Längen zu kämpfen hat. Aus jedem der Teile hätte man einige Seiten herausstreichen können, und das hätte nichts an der Wucht der Geschichte verändert. Viel zu oft verliert sich der Plot in zähe Erzählungen von Tätigkeiten auf dem Land, die womöglich das Stadtleben kontrastieren sollen, daran aber in jedem Fall scheitern.

Der letzte Teil ist vollständig auf Gertas Tochter Barbora fokalisiert und rundet den Roman in gewisser Weise ab. Und hier ist die nächste Schwachstelle des Romans zu erkennen. Tučková wechselt immer wieder die Erzählperspektive, was dem Roman eine gewisse Breite gibt, aber jedes Mal, wenn sie aus der Sicht der Tochter Barbora schreibt, nimmt es ihr nicht wirklich ab. Es passt nicht nur kaum zu den anderen Kapiteln, sondern ist holprig und sperrig. Damit verliert der Roman einiges an seiner Kraft. Die Autorin, selber Historikern, versucht hier offizielle Quellen und Zeitzeugenaussagen zu einer Fiktion zu verdichten und somit das Schicksal und Trauma einer Generation anhand eines Einzelschicksals zu erzählen. Das gelingt ihr weitestgehend. Anschaulich, trocken, feinfühlig und stellenweise gar poetisch erzählt sie von dem grausamen Schicksal Gertas, das für das von so vielen steht.

Es ist zudem nicht der erste und auch nicht der einzige Roman der tschechischen Gegenwartsliteratur, der dieses Thema behandelt. Zu nennen wären Radka Denemarkovás „Peníze od Hitlera“ (2006) und Jakuba Katalpas „Němci“ (2012). Während die zwei Romane schon auf Deutsch erschienen sind („Ein herrlicher Flecken Erde“, 2009 und „Die Deutschen“, 2016) und einen vergleichsweise guten Widerhall erhielten, verwundert es, dass ein Roman, der nach der Jahrtausendwende verstärkt geführten gesellschaftlichen Diskussion über die Entrechtung und Vertreibung der Deutschen neue Impulse setzte, erst jetzt auf Deutsch erscheint. Denn, das darf man nicht vergessen, die tschechische Seite tat sich lange bzw. tut sich bis heute schwer damit, die offiziellen Opferzahlen zu korrigieren. Für diesen Diskurs ist der vorliegende Roman, besonders durch seine historische Exaktheit, die ohne literarische Übertreibungen auskommt, ein wichtiger Baustein.

Was das Schreiben Tučkovás ausmacht, ist, dass die männlichen Figuren stets absent sind. Sie bekommen kaum eine Stimme. Allein ihr Bruder Friedrich, an dem der Gräuel der Nazis erzählt wird, kommt ausführlicher zu Wort. Diese Form des Schreibens ist eine ihrer großen Stärken, obwohl die oben genannten Romane ähnlich verfahren. Denn es geht ihr nicht allein um weibliche Erfahrung und Identität. Nein, Tučková legt einen Finger in eine Wunde, die noch lange nicht verheilt ist und ist damit Referenzpunkt einer ganzen Gesellschaft.

Dem relativ jungen KLAK-Verlag hätte etwas mehr Sorgfalt beim Layout gutgetan, denn an mehreren Stellen wechselt ohne Grund die Schriftart. Das fällt für den Inhalt des Buches jedoch nichts ins Gewicht, da der Lesefluss kaum gestört wird.

Abschließend ist also festzustellen, dass mit der Übersetzung von Tučkovás Roman nun endlich der vielleicht gesellschaftlich relevanteste Roman einer neuen Generation von Schriftsteller*innen, die sich mit dem sudetendeutschen Thema auseinandersetzen, den Weg ins Deutsche gefunden hat. Es ist vielleicht nicht der wortgewaltigste, aber der historisch akkurateste und authentischste und damit absolut lesenswert. Und mit welche einer Eleganz und Tiefe das Buch endet, ist nur mit einem in die Weite gerichteten Blick in sein eigenes Inneres zu erklären, wenn man nach der Lektüre das Erfahrene sacken lässt und nachdenklich schlucken muss.

 

 

 

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  1. Nicht leichter Stoff. Mich hat es neugierig gemacht, wie solche Dinge, die eigentlich unschreibbar und unsagbar sind, dargestellt werden können. Danke

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