Die Vergangenheit lässt nicht los: „Kronos Kinder“ von Sergej Lebedew

„Denn der Deutsche war ja nicht nur der Feind […], er war ein nahestehender Feind, fast ein Verwandter, und dabei doch anders, fremd.“

Es ist ein harmloser Ausflug auf den Deutschen Friedhof in Moskau: Wöchentlich begleitet Kirill seine Großmutter Lina zu den Gräbern ihrer russischstämmigen Verwandten. Doch an einem Tag führt sie ihn plötzlich zum zugewachsenen Grabstein der deutschstämmigen Familie Schwerdt. „Hier liegt dein Ururgroßvater!“ – diese Worte sollen Kirills Verständnis für seine Vergangenheit für immer ändern. Für „Kronos Kinder“ (Fischer) recherchierte der in Berlin lebende russische Autor Sergej Lebedew seine eigene Familiengeschichte und beschreibt in seinem Roman die enge Verbindung von Russland und Deutschland.

„Kronos Kinder“ zeichnet sich durch die detaillierte Spurensuche seines Protagonisten aus. In den Wirren der Zeit liegt der Fokus auf der engen Verzahnung der beiden Großmächte, deren brüderliche Verbindung mit der Ära Katharina der Großen immer intensiver wurde. Wie viele andere suchte auch Kirills Ururgroßvater Balthasar sein Glück im Zarenreich und begründete hier den Stammbaum seiner Familie. Generationen später werden aus den einstigen Nachbarn, Bekannten und Freunden bittere Feinde, die auf beiden Seiten zu viele Tote fordern sollte. Ähnlich wie der Gott Kronos seine Kinder verschlang – aus Furcht vor deren Überlegenheit  und der eigenen Entmachtung – ist es in Lebedews Geschichte diese Vergangenheit, die seine Hauptfigur Kirill während seiner Recherche nach und nach vereinnahmt:

„Kirill befürchtete, sein Leben könne überflutet werden von den dunklen Wassern der chthonischen Urgewalt des Vergangenen, von dem, was man unmöglich ändern und unmöglich annehmen konnte.“

Die Familiengeschichte der Schwerdts wird bestimmt durch ihre Nationalität. In Russland sind sie erst die vertrauenswürdigen, dann die feindsamen und verdächtigen Deutschen, in Deutschland wiederum gelten sie als Russen. Für die Familienmitglieder entsteht so eine unlösbare Mischform, die sich über ein ganzes Jahrhundert zieht und die sie immer wieder bedroht. Generation für Generation schlüsselt Kirill dieses Porträt der Schwerdts auf. Er liest die erhaltenen Tagebücher und Briefe seiner Großmutter, sucht in deutschen und russischen Archiven nach Akten aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg und besucht die zwangsenteigneten Anwesen seiner Familie – keine Spur ist ihm zu vage, um den Rätseln der Vergangenheit näher zu kommen. Das Europa des 20. Jahrhunderts ist ein brutaler Flickenteppich, viele Namen der Schwerdts gingen auf seinen Irrwegen verloren, doch Kirill schafft es, die Linie seiner Vorfahren immer weiterzuziehen. Leider geht durch die intensive Wiedergabe des Vergangenen die eigene Persönlichkeit Kirills verloren. Während man als Leser den (teilweise schon zu konstruiert scheinenden) Szenen der Jahrzehnte folgt, bleibt Kirill blass. „Kronos Kinder“ hätte insgesamt ein wenig mehr Ruhe nicht geschadet. So chaotisch das Jahrhundert ist, so wild springt auch Lebedew zwischen den Figuren, Zeiten und Handlungsorten hin und her. Ein richtiger Bezug zu den Personen kann dadurch nicht aufgebaut werden.

  • Gebundene Ausgabe: 384 Seiten, 24 € (D)
  • Verlag: S. FISCHER; Auflage: 1 (26. September 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-13: 978-3103973730

von Annika

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  1. Muromez says:

    Schon mit seinem letzten Buch „Menschen im August“ konnte ich überhaupt nichts anfangen. Hier lasse ich (auch nach dieser Rezension) ebenfalls die Finger von.

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