Protokoll eines Lebens: “Späte Gegend” von Lida Winiewicz

“Späte Gegend – so heißt bei uns die, wo ich her bin. Weil alles später reift. Wenn überhaupt: Manches reift gar nicht.”

“Späte Gegend” ist die Erzählung einer, wohl zum Glück, größtenteils vergangenen Welt. In dem Roman beschreibt die österreichische Autorin Lida Winiewicz das Leben einer namenlosen Frau, die, vor dem Ersten Weltkrieg geboren, auf dem Land in den ärmlichsten Verhältnissen aufwächst. Das Buch der erst im Oktober 2020 verstorbenen Schriftstellerin erschien nach mehreren Gesprächen zwischen ihr und einer Bäuerin im Braumüller Verlag.

“Erst jetzt fang ich wieder an zu lesen, das heißt `wieder´ ist nicht wahr. […] Am besten gefallen mir bisher ROBINSON CRUSOE. Vielleicht, weil mir alles bekannt vorkommt.”

Zwei Betten für sechs Familienmitglieder in einem Wohnraum, nur vier Jahre Schule, die erste Anstellung als Magd mit 12, das erste richtige Paar Schuhe mit 19 – das sind nur wenige der Details aus dem Leben der Protagonistin, die protokollieren, wie hart ihr Leben auf dem Land ist. Als Teil einer armen Bauernfamilie steht sie regelrecht am untersten Ende der Nahrungskette, ist dauerhaft unterernährt und hat wenig Hoffnung, dass sich ihre Lebenssituation ändern wird. Man bleibt unter sich, heiratet innerhalb der gleichen Gesellschaftsschicht und ist sich bewusst, dass das Leben dauerhaft aus harter und unbarmherziger Arbeit besteht. Diese Härte zieht sich durch die gesamte Erzählung, die aus der Ich-Perspektive beschrieben wird. Dadurch erhält man im Laufe der nur knapp 150 Seiten ein sehr gutes Bild der Protagonistin und erkennt gleichzeitig, wie wenig sie ihre Lebensumstände hinterfragt und wie selten sie überhaupt darüber nachdenkt, wie gut es andere im Vergleich zu ihr haben. Wenn sie das tut, dann immer ohne Neid oder Missgunst. Das ist die große Stärke des Romans, denn so kann man sich als Leser*in sachlich mit der Erzählung auseinandersetzen. Dass wohl niemand gerne mit dem Leben der Figuren tauschen würde, steht dabei natürlich außer Frage.

Lidia Winiewicz´ “Späte Gegend” ist wohl kaum eine Hommage an vergangene Tage. Eher ist es eine Warnung, das wertzuschätzen, was man hat, und ein Zeitzeugnis des ruralen Alltags vieler Menschen. Eine kurze, aber eindringliche Erzählung.

von Annika Grützner

  • Herausgeber : Braumüller Verlag (1. September 2020), 20 € (D)
  • Gebundene Ausgabe : 160 Seiten
  • ISBN-13 : 978-3992002818

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