„Es gibt zahlreiche Beispiele von Menschen, die sich im Namen einer höheren Macht aufopfern, eines höheren Ideals, eines höheren Guts. […] Insofern ist die Fähigkeit eines Menschen, ein Kreuz zu tragen, nichts anderes als der Ausdruck seiner inneren Kraft.“
„Rote Kreuze“ ist das literarische Debüt des belarussischen Autors Sasha Filipenko und der erste von insgesamt fünf Romanen, die von ihm im Diogenes Verlag erscheinen werden. Filipenko lebt in St. Petersburg. Nach einem Literaturstudium arbeitete er hier bereits als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator.
von Annika Grützner

Auf dem Buchmarkt ist eine Geschichte, die das Schicksal einer Familie erzählt und dabei fast ein ganzes Jahrhundert und mehrere Generationen umspannt, nichts Neues und selten überraschend. So braucht auch „Rote Kreuze“ einen kleinen Anlauf, bis die Erzählung um die beiden Protagonisten Alexander und Tatjana Alexejewna an Fahrt aufnimmt und ihre Besonderheiten offenbart.
Alexander leidet nach dem Tod seiner Frau und dessen tragischen Umständen an einer Depression und Einsamkeit. Ein Umzug nach Minsk soll ihm helfen, in seinem neuen Leben Fuß zu fassen. Schon am ersten Abend in der neuen Wohnung trifft er auf die über 90-jährige Tatjana, die ihm gegenüber wohnt und unter Alzheimer leidet. Nur widerwillig betritt er die Wohnung der alten Frau, doch schnell lassen ihn ihre Worte um ihre Lebensgeschichte nicht mehr los. Die ehemalige Fremdsprachensekretärin übersetzte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs für das Außenministerium wichtige Dokumente, erhielt so einen tiefen Einblick in die absurde Bürokratie des Krieges. Als ihr eines davon das Schicksal ihres an der Front kämpfenden Mannes verrät, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung, die sie ihr ganzes Leben lang verfolgen wird.
„Ein Todesurteil. Sie hatte die Stadt gebaut und den Platz. Dann hatte sie eine Schmiede eingerichtet und den Henker großgezogen. Sie hatte das Schafott errichtet und freiwillig bestiegen. All das in nur wenigen Sekunden.“ (Tatjana)
„Wenn ich zum Tode verurteilt wäre und einen einzigen Wunsch frei hätte – ich würde mir wünschen, sie noch einmal zu sehen.“ (Alexander)
Tatjanas Geschichte ist die vieler. Sie ist geprägt von Verfolgung, Gewalt, Angst und Wut – und von einer politischen und gesellschaftlichen Macht, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt. Als Tatjana als Feindin des Staates nach dem Zweiten Weltkrieg aus Moskau weiter in den Osten des Landes deportiert wird, bestimmen andere über sie. Viele Frauen im Lager entscheiden sich für die innere Kapitulation, werden zu emotionslosen Maschinen, um den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit nicht mehr spüren zu müssen. Doch Tatjana gibt nicht auf, kämpft in all den Jahren um ihren Stolz und um ihre Familie. Auch mit über 90 steht sie vor Alexander als selbstbewusste Frau, die sich nicht durch andere hat brechen und zum Aufgeben hat zwingen lassen.
Die roten Kreuze ziehen sich wie der Titel als Elemente durch das Buch. Tatjana übersetzt die vielen Anfragen der internationalen medizinischen Hilfsorganisation, die die Sowjetunion für andere Länder um Informationen der Kriegsgefangenen bis hin zum Austausch dieser bittet. Die Telegramme und Briefe sind als Originaltexte eingebunden und bieten einen sehr spannenden Einblick in die Kommunikation zwischen den verschiedenen Kriegsparteien. Gleichzeitig ist das rote Kreuz als Türmarkierung ein Zeichen für Tatjana, dass sie hier zu Hause ist und agiert als illegal aufgestelltes Grabmal. Im Roman vereint es als blutrotes Zeichen den Schrecken und die Hoffnung des Krieges und seinen Folgen.
Sasha Filipenkos „Rote Kreuze“ ist ein Roman, der mit immer größer werdenden Tempo mitreißt. Hier und da hinkt es an ein paar Stellen, gerade Alexanders Geschichte wirkte beispielsweise auf mich zwecks der Emotionalität dann doch etwas zusammengebastelt. Ein spannender Titel, der als Start für Filipenkos Veröffentlichungen auf Deutsch sehr gut tragen sollte!
Originaltitel : Krasny Krest , 22 € (D)
Gebundene Ausgabe : 288 Seiten
ISBN-13 : 978-3257071245