Welcome to Chechnya (USA, 2020) dokumentiert die systematische und brutale Verfolgung von LGBTQI+ in Tschetschenien. Regisseur David France legt einen oppulenten Dokumentarfilm vor, der phasenweise wie ein Action-Thriller daherkommt. Wird das dem Thema gerecht?
von Friedemann Schwenzer
Seit 2017 werden in Tschetschenien LGBTQI+ systematisch verfolgt, gefoltert und umgebracht. Ramsam Kadyrow regiert mit grausamer Hand und spricht öffentlich davon, man müsse das tschetschenische Blut von Homosexualität reinigen. Während der Kreml die Menschenrechtsverbrechen leugnet, hat sich in Russland ein zivilgesellschaftliches Unterstützer:innen-Netzwerk gebildet, welches den Verfolgten zur Flucht verhilft. Regisseur David France begleitet die Aktivist:innen bei ihrer Arbeit.
Als Zuschauer:in ist man von Anfang an nah dran am Geschehen. Zu Beginn des Films nimmt David Isteew, Aktivist im LGBTQI+-Netzwerk, einen Anruf entgegen: Die 21-jährige Tochter eines ranghohen tschetschenischen Regierungsmitarbeiters meldet sich. Im Film wird sie Anya genannt. Ihr Onkel droht ihr, sie als Lesbe zu outen, und zwingt sie zu sexuellen Handlungen. David und Anya planen eine riskante Flucht, eine Operation, bei der es vor allem um genaue Planung und Schnelligkeit geht, da zu befürchten ist, dass das Verschwinden auffliegt, bevor sie die Landesgrenze passiert haben.
An dieser Stelle kippt der Dokumentarfilm in einen Action-Thriller: David koordiniert die Rettungsaktion von Russland aus, während ein Team nach Grosny, Tschetschenien, reist. Die nervenaufreibende Aktion wird hautnah von der Kamera begleitet und tatsächlich gelingt es, Anya bis zum Flughafen zu bringen. Doch nachdem sie die erste Passkontrolle überwunden haben, kommt es zu einer letzten brenzligen Situation. Die Grenzpolizisten nehmen Anya scheinbar zielgerichtet zur Seite und kontrollieren ihren Pass erneut. Scheitert die Flucht im letzten Moment?
Die Flucht gelingt. Die Rettungsaktion ist jedoch so riskant und spektakulär, dass man sich fast unweigerlich fragt, ob das nicht doch alles nur (re-)inszeniert ist. Und tatsächlich wagt der Film eine mutige Gratwanderung zwischen Faktizität und Fiktion und umgeht somit ein Problem, welches investigative Dokumentarfilme häufig haben: Der Schutz sensibler Quellen geht häufig mit einem Verlust an Identifikation mit der Protagonist:in einher. Man sieht dann Menschen hinter einer Schattenwand, mit Kapuzenpullover und Sonnenbrille oder hört ihre Stimme nur verzerrt. Die Techniken der Anonymisierung sind vielfältig und wichtig, verhindern aber im wahrsten Sinne des Wortes der Protagonist:in ins Gesicht zu schauen.
Mittels einer neuartigen Deepfake-Technologie gelingt es dem Team von Regisseur David France, dieses Dilemma zu umgehen. Dafür haben LGBTQI+-Aktivisti:innen aus New York ihre Gesichter „gespendet“. Diese sind anschließend digital über die Gesichter der Protagonist:innen gelegt worden – eine berührende Geste der Solidarität. Die Technik funktioniert so gut, dass man es über weite Strecken des Films vergisst.
Wird das Anliegen des Films, für die Situation in Tschetschenien zu sensibilisieren, der Faszination für eine neue Technik geopfert? Nein, denn der Film geht damit von Anfang an transparent um und ermöglicht so ein Grad der Identifikation und Intimität, die sonst kaum möglich gewesen wäre. So kann man auch mit den vielen anderen Schicksalen, die neben Anyas Geschichte erzählt werden mitfühlen. Aber muss das Ganze im Format eines Action-Thrilles daherkommen? Jain. Der Film ist explizit nicht für ein Nischenpublikum gedreht, sondern versucht dieses sensible Menschenrechtsthema mainstreamtauglich zu erzählen. Wer den Charme einer verwackelten Menschenrechts-Doku erwartet, ist sicher zunächst irritiert. Wer sich aber darauf einlässt, wird anerkennen müssen, dass David France ein Genre neu erfunden hat. Und das auf faszinierende Art und Weise. Die staatliche Verfolgung von LQBTQI+ in Tschetschenien fand zu lang außerhalb des Radars der breiten Öffentlichkeit statt – dieser Film wird dazu beitragen, das zu ändern.