Der Völkermord an den Armeniern: Ein Zeitzeugenbericht von Arshaluys Mardigian

Als ich 2018 im Rahmen einer Gruppenreise nach Armenien kam, erwarteten mich 10 Tage mit einem vollen Programm. Mein Wissen zu dem kleinen Land im Kaukasus war begrenzt und wenige Stichwörter fielen mir im Vorfeld dazu ein, doch schnell verwandelte sich das wenige in meinem Kopf in eindrucksvolle Bilder der armenischen Landschaft, Geschichte und Kultur. Die 10 Tage verflogen schnell, gleichzeitig fühlten sie sich mindestens doppelt so lange an, so viel, wie uns unser Guide präsentierte und erzählte. Auch jetzt denke ich an diese Zeit voller Begeisterung zurück, denn Armenien wurde für mich zu einem der schönsten und vielseitigsten Länder, in denen ich je war.

Aktuell steht Armenien wieder in den Schlagzeilen. Seit 30 Jahren befindet sich das Land mit dem Nachbarn Aserbaidschan im Konflikt um die Region Bergkarabach. In diesem leben mehrheitlich Armenier, dennoch gehört es zu Aserbaidschan und sorgt immer wieder für Kampfhandlungen. Die historischen und politischen Ereignisse würden den Rahmen sprengen, zu empfehlen ist ein Übersichtsartikel des Journalisten Pavel Lokshin auf welt.de. Bezeichnend ist u. a., dass auch insbesondere durch die Einmischung der Türkei das Trauma der armenischen Bevölkerung, ausgelöst durch den Genozid 1915/16 durch türkische Machthaber, wieder in den Vordergrund rückt. Es scheint nur allzu passend, das kurz vor Ausbruch der neuen Kämpfe ein Zeitzeugenbericht erschien, der die Verfolgung der armenischen Familien auf eindrucksvolle und erschütternde Weise schildert: “… meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann” von Arshaluys Mardigian (zuKlampen!, aus dem Englischen von Walburg Seul).

Als ich, gemeinsam mit unserem Guide Nurek, den ersten Tag in Yerevan verbrachte und wir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten besuchten, machten wir ebenfalls Halt in Zizernakaberd, dem Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Momente, als Nurek im ruhigen Ton von den grausamen Ereignissen von vor über hundert Jahren berichteten, während wir durch das Museum schritten und vor der ewig brennenden Flamme am Obelisken standen. Im Vordergrund standen hier auch die Erinnerungen der jungen Arshaluys Mardigian die mit vierzehn Jahren auf den Todesmärschen alles verlor und der nach drei Jahren voller Schmerz und Leid schließlich die Flucht in die USA gelang. Hier schrieb sie ihre Erinnerungen nieder, die kurze Zeit später sogar mit ihr in der Hauptrolle verfilmt wurden. Das Publikum war geschockt, für Arshaluys begann der lebenslange Kampf gegen das Vergessen und für die Gerechtigkeit. Beeindruckt von der Energie dieser jungen Frau, wollte ich im Museum mehr erfahren, doch leider gab der Museumsshop keine Übersetzungen her. Wir verließen es ohne physische Erinnerung, doch im Hinterkopf hegte ich lange die Hoffnung, die Texte würden erneut übersetzt werden. Dass der Verlag zuKlampen! diesen Wunsch erfüllte und durch eine politische und historische Einordung als Essay von Tessa Hoffmann ergänzte, ist eine große Bereicherung.

“Gott ist verrückt geworden, er hat uns im Stich gelassen.”

Die Erinnerungen von Arshaluys Mardigian sind grausam und beim Lesen kaum zu ertragen. Mit einer fast schon kindlichen Sachlichkeit beschreibt die junge Frau die Folter und die Morde an ihren Landsleuten. Sie gibt denen eine Stimme, die nie die Chance hatten, sie zu erheben. Was Arshaluys und so viele andere in ihren Martyrium ertragen mussten, ist kaum vorstellbar. Das Lesen der Erinnerungen gerät dabei zu einem regelrechten Kampf. Einem Kampf, den man eingehen und sich dabei immer wieder erschreckend in Erinnerung rufen muss, wie wenig der Genozid bis heute aufgearbeitet wurde, wie lange darüber geschwiegen wurde und dass die Türkei sich zum Beispiel bis heute weigert, die Morde als Völkermord zu werten und die Schuld dafür anzuerkennen. Leider gibt es nur noch wenige Fragmente der Verfilmung der Memoiren, der Großteil ist verschollen. Umso wichtiger ist es, dieses Buch weiterzuempfehlen und zu lesen. Viel Zeit ist vergangen, doch die Erinnerungen und Geschichten der Überlebenden und deren Nachfahren verdienen diese Aufmerksamkeit.

von Annika Grützner

  • Taschenbuch : 260 Seiten, 24 € (D)
  • ISBN-13 : 978-3866746084
  • Herausgeber : zu Klampen Verlag – zu Klampen & Johannes GbR; 1. Edition (31. August 2020)

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