von Annika Grützner
Welche Erinnerungen bleiben, wenn eine Person verschwindet?
In “Die Nacht, als ich sie sah” (Folio Verlag) schreibt Drago Jančar, einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Sloweniens, in Romanform aus fünf verschiedenen Erzählperspektiven über das Schicksal von Veronika Zardik, einer jungen Frau, die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verschwand und deren Schicksal erst 2015 aufgeklärt wurde.
Veronika Zardik – eine junge, offene, lebensfrohe und selbstbewusste Frau. Eine Frau, die von vielen begehrt und als interessant empfunden wird. Sie ist der Mittelpunkt der gesellschaftlichen Treffen, studierte in Berlin, hatte einen kleinen Alligator als Haustier und besitzt sogar einen Pilotenschein. Doch ihre Offenheit ist auch vielen ein Dorn im Auge. In fünf Episoden ermöglicht uns Jančar einen Blick auf diese besondere Protagonistin. Wir betrachten sie und ihre Geschichte aus den Augen des verlassenen Liebhabers, ihrer sie schmerzlich vermissenden Mutter, des Dienstmädchens, des befreundeten deutschen Arztes und schließlich aus den Augen des Partisans, der sie verrät. Sie alle schwanken zwischen Hoffnung und Leid, denn fast allen ist das Schicksal von Veronika unbekannt. Sie alle haben eine Vermutung, die sie nicht wahrhaben wollen. Die Mutter hofft auf ihr neues mögliches Leben in Berlin, der Arzt will nur vergessen und der Partisan redet sich ein, dass alles in der Vergangenheit richtig verlaufen ist.
“Die Nacht, als ich sie sah” zeigt uns unterschiedliche Blickwinkel aus dem Schmelztiegel des Krieges, in dem sich unentwegt nicht nur geografische, sondern auch menschliche Grenzen verschoben, schon kleinste Gerüchte das Leben kosteten und in dem aus scheinbaren Freunden Verräter wurden. Ein intensives Buch.
- Gebundene Ausgabe: 192 Seiten, 20 € (D)
- Verlag: Folio; Auflage: 3 (31. Oktober 2019)
- Übersetzung: Daniela Kocmut, Klaus Detlef Olof
- ISBN-13: 978-3852568003