Immer unterwegs: „Unrast“ von Olga Tokarczuk

„Reg dich, beweg dich, los, Bewegung, Unrast. Nur so kannst du ihm entkommen. Er, der die Welt beherrscht, hat keine Macht über die Bewegung und weiß, dass unser Körper in Bewegung heilig ist, nur dann kannst du ihm entgehen, wenn du dich bewegst. Er aber hat die Herrschaft über das, was so unbeweglich und erstarrt ist, was reglos und kraftlos ist.“

von Annika Grützner

9783311100126Globalisierung, Mobilität, Identität – die Grenzen unserer Welt verschwimmen immer mehr und mit ihr eröffnet sich auch eine neue Freiheit. Noch vor hundert Jahren war eine Reise innerhalb Europas ein langwieriges Abenteuer, vor zweihundert Jahren war sogar der Weg von Stadt zu Stadt eine gefährliche Route mit der Kutsche oder zu Fuß. Heutzutage springen wir regelrecht von Ort zu Ort, von Bahnhof zu Flughafen, vom Flughafen zum Hafen, getrieben von dem Wunsch, alles zu sehen und in kürzester Zeit so viel wie möglich zu erleben. Olga Tokarczuks „Unrast“ (Kampa Verlag) setzt an diesem Gehetzt- und Unterwegs-Sein an. Dieses außergewöhnliche Buch, für das die polnische Autorin und Psychologin 2018 den Man Booker International Prize gewann, ist eine vielseitige Sammlung verschiedener Fragmente, die sich wohl grob unter dem nüchternen Begriff „Mobilität“ zusammenfassen lassen. Als roten Faden begleiten wir hier die namenlose Ich-Erzählerin, die als Kosmopolitin auf der ganzen Welt lebt und arbeitet und ihre Gedanken zu diesem haltlosen Leben reflektiert.

„Die Geschichte meiner Reisen ist nur die Geschichte meiner Unzulänglichkeit.“

„Unrast“ ist ein Werk, das man nicht so richtig fassen kann, wodurch es aber umso mehr fasziniert. Es ist kein Roman, keine Kurzgeschichtensammlung, kein Sachbuch – es agiert eher als Notizbuch, das mehrere fiktive Personen für eigene Gedankenfetzen und Geschichten genutzt haben. So gibt es zum Beispiel kurze Auszüge eines Vortrags von Psychologen zum Thema Reisen, die Erzählung eines Mannes, der auf einer kroatischen Insel seine Frau und sein Kind sucht oder die eines Anatomieprofessors auf der Suche nach dem beruflichen Fortschritt. Einige der Texte gehen über mehrere Seiten, einige nehmen nicht mal eine ein. Sie alle verbindet das Gefühl der Unrast, besonders die Ich-Erzählerin lebt mit diesem. Ursprünglich aus Polen kommend, widerstrebt ihr Vagabundenleben nach verschiedenen beruflichen Stationen den Vorstellungen ihrer Eltern von einem klaren Zuhause. Doch für die Protagonistin ist klar, dass dieses gerade in den Hotelzimmern und Wartehallen liegt, die sich zwar immer gleich anfühlen, aber ihr dennoch das Gefühl von Individualität und Freiheit geben. Natürlich bringt dieses Leben auch Einsamkeit und Entfremdung mit sich und so vermittelt Unrast ein zwiespältiges Gefühl der Unentschiedenheit.

In „Unrast“ ist jedes Kapitel eine Schatzkiste, die jeder Leser für sich selbst finden und öffnen muss. Das Lesen des Buches ist eine Erfahrung, die das eigene Unterwegsein von nun an immer prägen wird.

 

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