In Jewgeni Wodolaskins „Luftgänger“ (Aufbau Verlag) erwacht ein Mann ohne Erinnerung in einem Krankenhaus, nicht einmal mehr sein Name fällt ihm ein. Stück für Stück kehren dann allerdings Szenen aus seiner Vergangenheit zurück. Es entstehen Bilder von der Russischen Revolution, von Verfolgung und dem Gefängnis, von dem Lager. Innokenti Platonow begreift schnell, dass er ein bewegtes Leben hinter sich hat, ein Zeitzeuge der europäischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts ist. Doch wie passen diese Erinnerungen mit der Gegenwart zusammen? Wie kann es sein, dass er Anfang des 21. Jahrhunderts erwacht und äußerlich immer noch so jung erscheint?
„Luftgänger“ beginnt mit einem Tagebucheintrag. Innokenti Platonow soll sich mit Hilfe von Notizen an seine Vergangenheit erinnern. So springen die Leser direkt in den Prozess der Regenerierung und folgen den sprunghaft einsetzenden Fetzen aus Platonows Leben, die keiner Chronologie folgen. Das Erzählte wird dadurch auf zwei Zeitebenen wiedergegeben. Einmal ist es die Gegenwart, in der Platonow mit Unterstützung des Arztes und der Krankenschwester versucht, in seinem neuen Leben Fuß zu fassen und die Vergangenheit, die den Patienten ebenfalls in einen Strudel aus Emotionen stürzt. Natürlich liegen Platonows Familie, Freunde und Feinde längst unter der Erde, während er sich nun als Einzelgänger in der globalisierten Welt behaupten muss und als „Wiederkehrer der Vergangenheit“ zum Held der Medien wird. Platonow steht für das Vergangene, auch für das Verlorene, durch ihn wird die Frage „Wie war es früher?“ lebendig. Und so begleiten ihn seine Mitmenschen immer mit wachsamen Augen. Was erkennt er wieder? Was hat sich verändert und wieso? Auch die Fragen, ob er sich gerne an jemandem rächen würde und wen er am meisten vermisst, stehen im Mittelpunkt. Sein Alltag wird damit eine philosophische Erkundung und schließlich auch eine versuchte Versöhnung mit der Vergangenheit.
Der in St. Petersburg lebende, viel prämierte Autor Jewgeni Wodolaskin hat mit „Luftgänger“ einen Roman geschaffen, der nicht unberührt lässt. Durch seine Protagonisten entfalten sich nach und nach das russische Geschichtspanorama und das nicht als schnöde Nacherzählung. Lediglich am Ende hätte Wodolaskin in meinem Empfinden in der Handlung konsequenter sein können.
von Annika Grützner
- Gebundene Ausgabe: 429 Seiten, 24 € (D)
- Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 1. (15. März 2019)
- Übersetzung: Ganna-Maria Braungardt
- ISBN-13: 978-3351037048