Vom Schreien fremder Kinder begleitet, richtet sich Ajka auf. Auch andere Frauen haben gerade ein Kind zur Welt gebracht. Grau, karg, trostlos, gar beklemmend ist dieser Ort. Benommen verlässt sie die Entbindungsstation. Sie lässt ihr Kind zurück. Von nun an ist Ajka eine kirgisische Migrantin auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben im weiß-kalten, laut-hektischen Moskau, fortwährend in Geldnot, zum Überlebenskampf verdammt.
von Philine Bickhardt
Ein Strom an Gewalt
Die Kamera folgt Ajka (Samal Esljamova [Samal Yeslyamova]) auf Schritt und Tritt – die Bilder sind fortwährend in Bewegung. Die Zuschauenden, so Regisseur Sergej Dvorcevoj, sollen Ähnliches empfinden wie das Team während des Drehs. Denn das Team wusste selbst nur selten, wie es mit der Handlung weitergeht: Der Spielfilm ist, nach Aussage des Regisseurs, zu 80% improvisiert; und obendrein durchsetzt von einem spontan-unerwarteten Element, einem rigoros hineinbrechenden Strom an Gewalt und Kettenreaktionen. Meist von hinten, manchmal von der Seite, sehen wir die ehrgeizige und zugleich verzweifelte Ajka bei ihrer unermüdlichen Suche, und verharren dabei selbst in einer ununterbrochenen (An-)Spannung. Die Kamera bleibt Ajka dicht auf den Fersen. Selten weitet sie den Blick; Nahaufnahmen lassen niemandem einen Rückzugsraum, weder dem Publikum, noch der Protagonistin. Auf engstem Raum, um jeden Quadratzentimeter kämpfend, lebt sie illegal in einer Wohnung mit anderen Migrant*innen. Wie draußen auf den Straßen Moskaus erfährt sie auch hier keine Solidarität und ist aufgrund der Lebensverhältnisse selbst zu keiner solchen fähig. Nah und erdrückend ist das Filmerlebnis. Ihre psychischen Belastungen werden zu jenen der Zuschauenden. Vereinzelt wird die Analogkamera von einer Digitalkamera abgelöst und der Charakter des Dokumentarischen durch den Einsatz von Handkameras verstärkt.
Ein Huhn, in Plastiktüte verpackt
Nach der Flucht aus dem Krankenhaus zieht Ajka, Arbeit suchend, durch die Straßen. Doch ihre Blutungen nach der Entbindung lassen sich nicht stoppen und führen sie, dank der Hilfe einer Migrantin, schlussendlich auf den Untersuchungsstuhl einer Gynäkologin, die auch Frauen ohne Papiere behandelt. Ajka kann sie nur mit einem gerupften Huhn, in einer Plastiktüte verpackt, bezahlen – das ist alles, was ihr nach harter Arbeit und ausbleibender Bezahlung geblieben ist.
Es gibt sie also, die Momente des absoluten Mitgefühls, in die auch das Publikum hineingezogen wird. Demgegenüber steht eine Kälte der Empfindung, die mitunter selbst Ajka erfasst. Sie wird handgreiflich, nicht nur ihren Mitbewohner*innen, sondern auch und besonders einer Migrantin gegenüber. Ihr droht sie sogar mit Ermordung. All das sind Szenen, in denen Ajka in ihrer Ausweglosigkeit jene Gewalt anwendet, die ihr selbst widerfährt. Genau das macht die Stärke, die die Zuschauenden unmittelbar affizierende emotionale Intensität des Films aus: Die von der Kamera beklemmend nah aufgenommene Gefühlswelt Ajkas macht eine Distanzierung unmöglich.
Tierischer Überlebenskampf
Das psychische Leiden, Geldnot, Hast und Eile wechselt in die Darstellung des rein physisch empfundenen Schmerzes: Ajka bricht Eiszapfen von Hausdächern ab, um ihre Infektionen und Entzündungen im Unterleib zu behandeln; in einer anderen Szene wird sie völlig durchnässt und erschöpft von einer anderen Migrantin aufgenommen und stopft sich, unkontrolliert und vom Heißhunger heimgesucht, Essen in den Mund. Die körperlichen, reflexartigen, fast tierischen Bedürfnisse treten in den Vordergrund. So wirkt auch Ajkas Flucht zu Beginn des Filmes, das Hinterlassen des gerade zur Welt gebrachten Kindes, animalisch: Minutiös ist mitzuerleben, wie sie in die weiß gekachelte Toilette flüchtet, um sich dem Stillen ihres Kindes zu entziehen; des Kindes, welches sie in Folge einer Vergewaltigung durch einen Polizisten hat austragen müssen (das werden wir allerdings erst ganz am Ende des Films erfahren). In Sekundenschnelle tastet sie panisch das Toilettenfenster ab, rüttelt ein paarmal heftig an ihm, zerschlägt es schlussendlich, zwängt sich durch die Luke und springt hinunter in das schneebedeckte Moskau, das von nun an Schauplatz fünf grausamer Tage in Ajkas Leben ist.
Die Kälte auf der Ebene der Farb-, Laut-, und Hintergrundkomposition (urbane, dichte Stadtlandschaft; weiße, graue, schwarze Farbtöne; Lärm, das immer wieder klingelnde Telefon etc.) und auf der Ebene der sich vollziehenden Handlung ist so erschlagend, dass sie keine empfundene Wärme für Ajka bei den Zuschauenden zulassen kann. Wie gesagt: Man ist quasi gezwungen, Ajkas Perspektive einzunehmen. Während nahezu keine warmen Gefühle für Ajka empfunden werden können, wird dem sehenden Subjekt, so wie Ajka auch, Härte und Kälte abverlangt. Der Überlebenskampf hat Ajka schließlich selbst zum Teil der im Film behandelten Kälte werden lassen. So durchdringt eben diese Kälte am Ende alles und lässt nicht einmal mehr einen kleinen Raum für die Wandlung von basalem Mitgefühl zu einer rettenden Insel der Sympathie zu.
Gute Mütter – Schlechte Mütter
Glaubwürdig und geschlossen nimmt dieser Film eine einzelne Protagonistin ins Visier. Und doch ist ihr Schicksal übertragbar auf die vor allem für weibliche Migrant*innen erschütternden Lebensbedingungen in den Großstädten Russlands und weltweit. Der als ethnischer Russe in Kasachstan aufgewachsene Dvorcevoj sei bei der Zeitungslektüre auf eine Meldung gestoßen, wonach unzählige Frauen zentralasiatischer Herkunft ihre Kinder in Kliniken oder Babyklappen hinterließen – für ihn gänzlich unvereinbar mit dem Bild warmherziger, umsorgender Mütter kasachischer Herkunft. So begab sich der Regisseur auf die Suche nach allgemeingültigen Antworten für das Handeln dieser Frauen (er nennt es in einem Interview universal´naja problema, dt. universelles Problem). Der Film lässt sich daher nicht als plakative Russlandkritik, sondern vielmehr als Annäherung an die Gründe solchen Leids von Migrant*innen lesen, das exemplarisch an dem Schicksal Ajkas, geprägt von sexueller Gewalt, Illegalität und Perspektivlosigkeit, erfahrbar ist. Entwürdigende Lebensverhältnisse werden hier einerseits als ein für die heutige postsowjetische Gesellschaft aktuelles Problem geschildert, anderseits als Folgeerscheinung einer sich kapitalistisch entwickelnden, den Gesetzen der Leistungsfähigkeit unterliegenden Gesellschaft in der Moderne, bestimmt durch den Gegensatz von Stadt und Land sowie Staatsgrenzen, Migrationserfahrungen und Illegalisierung bestimmter Gruppen. Ajka ist ein Film über den Überlebenswillen und -kampf marginalisierter und exkludierter Minderheiten in Großstädten. Und Moskau, besonders zur Winterzeit, ist jene Metropole, in der dieses Problem eklatant zum Tragen kommt.
Das Kind in den Armen
Am Ende weint Ajka zum ersten Mal. Nach einer langen Phase des Überlebenskampfes unternimmt sie den letzten Versuch, irgendwie an Geld zu kommen. Denn Ajka hat Schulden, weil sie sich von dubiosen Landsmännern einen Kredit für den Aufbau ihrer eigenen Nähwerkstatt genommen hat. So holt sie in der letzten Szene des Films ihr Kind aus dem Krankenhaus, um es weiterzuverkaufen, und steht vor der wiederholten, eigentlichen Frage, ob sie ihr Kind behalten oder erneut weggeben muss. In dem Weinen spiegeln sich Schmerz und Entlastung zugleich. Der Säugling trinkt an ihrer Brust und es kommt zu einem ersten ungeplanten Moment von Nähe, der ihre inneren Mauern durchbricht. Das Kind, das sie eingangs zurückließ, liegt nun in ihren Armen.
Dvorcevoj, Sergej: Ajka. Russland, 2018, 100 Min.
* Der Text ist im Rahmen des novinki-Seminars (eine Kooperation zwischen dem FilmFestival Cottbus, Universität Potsdam und Humboldt-Universität zu Berlin) entstanden.
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