„Und in einem dieser Augenblicke, als mich eine tiefe Leere quälte, begann ich plötzlich über die Zeit nachzudenken wie über etwas, das eine Kette sinnloser Ereignisse miteinander verbindet, und darüber, dass der Sinn nur in der Aufeinanderfolge dieser Ereignisse liegt und dass weder Gott noch die Liebe noch die Schönheit noch die Größe des Verstands unsere Welt bestimmen, sondern allein die Zeit, der Lauf der Zeit und das Vergehen des menschlichen Lebens in ihr.
Das menschliche Leben ist ihre Nahrung. Die Zeit verschlingt Millionen Tonnen davon, zerkaut und zermalmt sie wie ein gigantischer Blauwal das mikroskopisch kleine Plankton – ein Leben verschwindet spurlos, um einem anderen, dem nächsten in der Kette, eine Chance zu geben. Mich bedrückte weniger das Verschwinden selbst als die Spurlosigkeit des Verschwindens. Ich dachte, dass ich mich bereits selbst mit einem Fuß dort befand, in der Vergessenheit.“
von Katharina Haase
In ihrem im Jahr 1929 erschienenen Essay „Ein eigenes Zimmer“ spricht Virginia Woolf von dem inzwischen sprichwörtlich gewordenen „eigenen Zimmer“ als Metapher für weibliche Unabhängigkeit und Teilhabe am geschichtlichen Diskurs. In Tanja Maljartschuks „Blauwal der Erinnerung“ (erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch) steht der Protagonistin, einer namenlosen Ich- Erzählerin und Autorin, gleich eine ganze Wohnung zur Verfügung. Die kann sie allerdings aufgrund ihrer Panikattacken und Neurosen nicht mehr verlassen und wird dort von toxischen Erinnerungen heimgesucht – an gescheiterte Liebesaffären und Vergangenheiten, die nicht ihre eigenen sind:
„Das Erinnern ist mein Luxus. Ich konzentriere mich und falle in ein Delirium, es ist wie der Sturz in einen bodenlosen, senkrechten Schacht, wo nichts ist, an dem ich festhalten kann, meine Nägel schrammen vergeblich über die makellos glatte Oberfläche. Ich falle in die Vergangenheit. Möchte schreien, aber die Stimme erstarrt im Inneren meines Körpers, den ich schon bald nicht mehr meinen eigenen werde nennen können.“
Außer mit der exzessiven Säuberung der Fußböden verbringt die junge Frau ihre Zeit mit der Recherche für ihr Buchprojekt über den ukrainischen Nationalhelden Wjatscheslaw Lypynskyj. Der im Jahr 1882 in Wolhynien geborene Spross einer polnisch-katholischen Adelsfamilie setzte sich mit Publikationen wie „Der ukrainische Adel und seine Teilnahme am Leben des ukrainischen Volkes“ für die Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates ein. Auf einem zweiten Erzählstrang wird sein Leben geschildert. Die des unglücklichen Ehemanns, des Lungenkranken, des nimmermüden Streiters für eine unabhängige Ukraine. Im Angesicht der ausführlichen Beschreibungen seines Privatlebens sind die potentiellen politischen Implikationen seiner Geschichte jedoch schnell vergessen.
„Wieso gerade er?“
Mit dieser Frage beginnt der neueste Roman der Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk. Und tatsächlich stellt sich diese Frage auch die namenlose Ich-Erzählerin, die diese mit in ihrem „irrationalen Stursinn“ beantwortet. Die Frage, „Wieso gerade er“, könnte sich statt auf Lypynsykyj allerdings auch auf die Männer beziehen, mit denen sie Liebesbeziehungen eingegangen ist und von denen wir erfahren, dass sie alle drei „helles Haar und einen runden Kopf“ hatten. Der erste von ihnen ist Universitätsdozent für Ukrainistik, ein Studienfach, das die Hauptfigur willkürlich gewählt hat. Die klischeehafte Schilderung einer Amour Fou zwischen ihr, der kokett aufmüpfigen Studentin, und dem Dozenten wird auf der zweiten Erzählebene in Lypynskyjs Geschichte gespiegelt. Auch er unterhält eine Liebesbeziehung zu einer seiner Studentinnen, die im Gegensatz zum modernen Pendant in der Ehe mündet. Zwischen eher abgenutzten Bildern und Klischees, deren Anhäufung konzeptionelle Intention nahe legen könnte, glänzt der Roman mit charmanter Detailverliebtheit und originellen Anekdoten.
„Das Haus hatte längst eine Renovierung nötig, doch Frau Szumińska besaß nicht die Mittel dafür, denn ihr Mann hatte es vor seinem plötzlichen Tod im Alter von vierzig Jahren zustande gebracht, innerhalb von zwei Jahren die gesamten Familienersparnisse in eine sinnlose Erfindung zu investieren, eine Vorrichtung zur Registrierung von Erdbeben. Die Erfindung sah wie eine gewöhnliche Vase aus, mit seltsamen Haken, die nach allen Seiten abstanden. Eine solche Vase bekam Frau Szumińska zugeschickt, als ihr Mann bereits verstorben war.“
Obgleich die Figur der unglücklichen Autorin im stillen Zentrum der Erzählung steht, nehmen die Geschichte Lypynskyjs und seines historischen Umfelds lange Passagen des Romans in Beschlag. Maljartschuk hat einen Roman über eine junge Frau geschrieben, die völlig von der Vergangenheit verzehrt und von verschiedenen Männern – ob in Gestalt historischer Projektionsfiguren oder unglücklicher Liebesaffären – dominiert wird. Nicht einmal einen Namen gestattet sie ihr zu.
In ihrem Artikel „Lieber peinlich als männlich“, erschienen in der „Zeit“ vom 14.03.2019, stellt Iris Radisch fest, es sei „gerade den bedeutendsten Schriftstellerinnen selten geglückt, sich literarisch zu ermannen und dem verpönten weiblichen ‚Opferdiskurs‘ zu entsagen.“ Ob eine Ironisierung dieses ‚Opferdiskurses’ von Maljartschuk beabsichtigt war, sei dahin gestellt.
„Anstatt meinen Verstand zu trainieren, übte ich mich im Leiden. Statt mich am Lesen zu berauschen, ertränkte ich meinen unerträglichen Schmerz in Alkohol. Ich bevorzugte die Liebe und vernachlässigte die große Kunst des klaren Denkens.“
Gegen Ende des Buches überwindet die Ich-Erzählerin dank virtueller Psychotherapie ihre Phobie vor der Außenwelt und verlässt ihre Behausung um sich auf eine Reise auf den Spuren von Lypynskyj zu begeben. Im Laufe dieser Reise erinnert sie sich auch an die eigene Familiengeschichte und erzählt, wie ihre Großmutter die ukrainische Hungersnot Holodomor in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts überlebt hat:
„Der Vater brachte die kleine Sonja also zu den Stufen des Waisenhauses und befahl ihr, dort zu warten, er würde derweil schnell Pampuschki mit Marmelade kaufen gehen. Sonja wartete, ohne sich zu rühren, einige Sekunden lang, sie saß still wie ein Mäuschen da, sodass die Angestellten der Einrichtung sie nicht sofort bemerkten. ,Komm herein‘, rief eine von ihnen schließlich, aber Oma Sonja schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen, dass sie auf ihren Vater warte, der losgegangen sei, um Pampuschki mit Marmelade zu holen. Die Angestellten verloren die Geduld und zogen Sonja ins Haus, denn es dämmerte schon, doch die schrie nur: ‚Lass mich los, mein Papa kommt gleich mit den Pampuschki!‘“
Gegenüber den eindrucksvoll beschriebenen Geschichten der Vergangenheit spielt die zeitgenössische Handlung im Roman eine untergeordnete Rolle.
Titel: Blauwal der Erinnerung (Original: Забуття, 2016)
Autorin: Tanja Maljartschuk
Übersetzung: Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck
Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2019
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