„Ich weiß nicht, ob es mir eines Tages gelingen wird, meine Kindheit zu verlassen. Zäher Nebel hat alle Wege nach vorn, alle Wege nach irgendwo, in Ungewissheit getaucht.“
von Annika Grützner
Übersehen werden – ein Zustand oder auch ein Gefühl, das meist negativ ist. Manche wollen bewusst übersehen werden, manche finden sogar Gefallen daran, doch für viele ist es in der jeweiligen Situation eher eine Einschränkung, eine Abneigung der anderen oder ein Makel. Von diesem Dasein schreibt die bulgarische Autorin Nataliya Deleva in ihrem Debüt „Übersehen“ (erschienen im eta Verlag). In dem Roman erzählt die Ich-Erzählerin von ihrer Vergangenheit als Heimkind, die sich bis in ihre Gegenwart zieht. Unterbrochen wird die Geschichte von kurzen Szenen anderer Figuren, die auch immer eine soziale Ausgrenzung beinhalten.
Am einprägsamsten ist für die junge Frau in „Übersehen“ das Gefühl, nicht gewollt zu werden. Erst war es ihre Mutter, die sie zurückließ, dann die vielen Pärchen, die sich an den Tagen der offenen Tür für andere Kinder entschieden. Liebe gibt es im Heim keine. Die Aufseherinnen verschließen die Augen, wenn die älteren Jungen nachts über die schutzlosen Mädchen herfallen oder ihnen das Essen stehlen. Das Leben im Heim ist ein ständiger Kampf um Würde und Macht. Einzige Vertraute ist Naja, mit der die Ich-Erzählerin eine intime Beziehung beginnt und gemeinsam mit ihr in das Erwachsenenleben entlassen wird. Doch der Wunsch nach Freiheit und Geborgenheit engt die beiden ein, bis Naja ohne Abschied plötzlich verschwindet. Die Erinnerungen wiegen zu schwer. Zurück bleibt die Hauptfigur, die Trost in der Arbeit mit Waisenkindern findet und so diesem Teufelskreis aus der Vergangenheit nicht wirklich entkommen kann. Wird der Gedanke an ihre eigene Kindheit zu stark, ersinnt sie fiktive Gespräche mit ihrer leiblichen Mutter oder versucht sich das Leben anderer vorzustellen:
„Meine Truhe der Erinnerungen. In ihr sammle ich Gegenstände, fremde Worte und Erinnerungen anderer Leute von ihren nahestehenden Menschen. Ich will sie ganz mit fremden Abschieden füllen, damit kein bisschen Platz mehr für meine eigenen bleibt.“
Deleva gibt den Ausgegrenzten, ob durch andere oder aus eigenem Impuls, eine Stimme und „Übersehen“ ist gewiss keine leichte Kost, aber ein umso wichtigeres Buch über die verlorenen Kinder Bulgariens. In ihrem Heimatland stand die Autorin zurecht damit auf der Shortlist für den Literaturpreis „Bulgarischer Roman des Jahres“.
- Gebundene Ausgabe: 160 Seiten, 14,90 € (D)
- Verlag: eta Verlag; Auflage: 1 (17. September 2018)
- Sprache: Elvira Bormann
- ISBN-13: 978-3981840889
Ein sehr interessanter Beitrag Annika! Auch wir hatten früher im Ort ein Kinderheim, deren Bewohner sicher auch Probleme hatten, sich zu integrieren. Aber als Kind hat man sich damals kaum Gedanken darüber gemacht, und jetzt ist es schwer, Kontakt zu diesen ehemaligen Heimkindern zu finden, um sie über ihre Schwierigkeiten damals zu befragen. Dir noch ein wunderschönes Osterfest, liebe Grüsse Olaf :)<3
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