Interview mit Zsuzsa Selyem zu ihrem 2018 im Nischen Verlag erschienenen Roman „Regen in Moskau“

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„Mit Entsetzen betrachtete die größere Tochter Lilliann die Szene von der Tür aus. Sie sah die zertrümmerten Reste des Abendessens, die Tierknochen unter dem Tisch, die Menschenknochen im Graben, ihren Vater, der behaglich ihrer Mutter beim Ziehen an der langen Zigarettenspitze zuschaute, sah ihre arglose kleine Schwester im Schoß des Mannes, sah den anderen fremden Mann, der jeden, aber in erster Linie sich selbst verriet und so durch die Diktatur lavierte, sie sah die Hasenjagd, die an jenem Tag stattgefunden hatte, jeden einzelnen Hasen für sich, sah die verwaisten Hasenjungen verhungern, sah andere Jagden auf Rehe, Füchse, Wildschweine, Hirsche, sah den Diktator bei den Futterkrippen auf Bären schießen, sah ihre Mutter bis zum Schenkel im Wasser Reis schneiden, sah ihren Vater erschlagen bei der Securitate, sah ihn mit einundachtzig Jahren im Dezember 1989 auf offener Straße ganz aufrecht in die Revolution schreiten, sah mit eigenen Augen, dass der Diktator wie ein gehetztes Tier floh, dann aber wie ein Hund erschossen wurde, und sah, alles war voller Freude, voller Schmerz.

Sie stand dort in der Tür in ihrem spitzenbesetzten Nachthemd, barfuß, mit blonden krausen Locken, mit neun Jahren. Alles hatte sie gesehen, doch sie sagte nur leise: ‘Tolstoi était végétarian.’“

(Auszug aus dem Roman Regen in Moskau

 

In ihrem Roman „Regen in Moskau“, beschreibt die ungarisch- rumänische Autorin Zsuzsa Selyem das Schicksal einer Familie aus Siebenbürgen in verschiedenen Jahrhunderten und aus wechselnden Perspektiven. Im folgenden Interview erzählt sie uns mehr von sich und dem Roman.

Können Sie uns etwas über Ihren Hintergrund als Schriftstellerin erzählen?

Zsuzsa Selyem: Mit der Literatur, wie sie in der Schule gelehrt wurde, hatte ich nicht viel zu tun. Ich war gelangweilt von der moralistischen und propagandistischen Herangehensweise, und dem ewig maskulinen und patriotischen Charakter der Literatur. Aber auf Partys im Wald oder alternativen kulturellen Veranstaltungen bin ich auf humorvolle und weltoffene Autoren wie Kafka oder Hašek gestoßen. Da begann meine Karriere als Leserin, die mich als erstes an die mathematische Fakultät führte. Obwohl Mathematik die schönste und vorurteilsfreiste Erzählung ist, begriff ich, dass es meine Seele getötet hätte, in einem hoffnungslosen Bildungssystem zu unterrichten. Aber was ist eigentlich die Seele? Diese Frage führte mich zum Schreiben.

Sie sind auch Universitätsprofessorin. Wie erleben sie die Balance zwischen akademischer Arbeit und künstlerischem Ausdruck? Ist die akademische Recherche bereichernd für den Schreibprozess oder kann sie ihn erschweren?

Zsuzsa Selyem: Beides. Die akademische Arbeit kann eine Inspiration sein, aber auch ein Hindernis.
Zu kritisches Denken kann die freie Hand blockieren.

Hatten Sie ein bestimmtes Zielpublikum für “Regen in Moskau” im Auge? Und hat sich diese Vorstellung im Laufe des Arbeitsprozesses verändert?

Zsuzsa Selyem: Ich versuche, so viele Menschen zu erreichen, wie möglich. Ich hatte in meinem Leben viele Erfahrungen mit Situationen, in denen Menschen ausgeschlossen wurden. Im Fall von “Regen in Moskau” war die Gefahr des Ausschlusses einer Leserschaft durch die geopolitischen Aspekte der Geschichte und eventuell durch einige philosophische und literarische Anspielungen gegeben. Diese Aspekte sind einem Teil der LeserInnen bekannt, aber exotisch für andere. Und, wie man meinen vorherigen Äußerungen entnehmen kann, steht Exotik auf meiner schwarzen Liste. Also habe ich versucht, die Balance zwischen der Illusion von Allwissenheit und totaler Ignoranz zu finden. Und ich habe auch einige Brechtsche Verfremdungseffekte benutzt, um der Kommerzialisierung der Geschichte entgegen zu wirken. Ich denke oder hoffe zumindest, dass es niemandem die Freude am Lesen nimmt, wenn man zwischendurch mal nachschlagen muss, wer Woyzeck oder Ana Pauker waren.

Warum haben Sie sich für eine nichtlineare Erzählweise entschieden?

Zsuzsa Selyem: Linearität ist eine Abstraktion, eine Konstruktion. Sie ist die Komplizin von Hierarchie und unkritischer Akzeptanz von Subordination. Aber sie ist auch einfach, so einfach, wie die verschwenderische Lebensweise der Menschen, die zur ökologischen Katastrophe führen wird. In sofern kann Linearität im Zusammenhang mit Determinismus betrachtet werden. Linien verwischen die Fragen nach den Konsequenzen des Handelns. Empathie ist nicht genug. Wir müssen unsere kognitiven Fähigkeiten benutzen; wir müssen unsere sensorischen Fähigkeiten ausbauen.

Manche der Passagen im Buch erwecken den Eindruck, der Fokus liege auf der Geschichte der Region, nicht auf den Geschichten der Figuren. Hatten Sie ursprünglich geplant, ein historisches Buch zu verfassen?

Zsuzsa Selyem: Ich habe versucht, mich auf das Leben einer realen Person zu beziehen – meines Großvaters – und es mit der heutigen Welt in Relation zu setzen. Ich war weder an der reinen Nacherzählung der Weltgeschichte, noch an narzisstischen Familiengeschichten interessiert, aber ich musste die Aufnahmen meines Großvaters einfach verwenden, die mir auf mehreren Kassetten sein Leben erzählten. Mir war nicht ganz klar, warum er mir diese Kassetten hinterlassen hatte, schließlich existierte schon ein Buch über sein Leben, das auch veröffentlicht wurde. Ein weiteres Mal seinen Kampf gegen die Diktatur zu beschreiben wäre sinnlos gewesen. Es gibt so viele Bücher über Menschen die in Diktaturen leben, und ich wollte nicht noch ein weiteres schreiben.

In der zeitgenössischen europäischen Literatur gibt es eine große Faszination für die Vergangenheit. Gibt es noch immer ein Defizit an Aufarbeitung, ist die Gegenwart schlicht nicht interessant oder verkauft sich die Vergangenheit einfach besser?

Zsuzsa Selyem: All diese Gründe treffen zu, aber ich bin keine Vergangenheitskonsumentin. Für mich ist die Vergangenheit nur im Zusammenhang mit der Gegenwart interessant; ich lese Ovids Metamorphosen nicht, um zu wissen, wie das Leben vor zweitausend Jahren gewesen ist, sondern, um etwas über das Leben heute zu lernen.

Gibt es Pläne für ein neues Buch, von denen Sie uns erzählen möchten?

Zsuzsa Selyem: Ich arbeite an einer Sammlung von Kurzgeschichten, die sich mit Themen wie der Flucht vor Gewalt und Krieg auseinandersetzen.

Würden Sie Ihre Arbeit als politisch beschreiben?

Zsuzsa Selyem: Ja.

Warum spielen Tiere eine so große, aber nicht die einzige Rolle als erzählende Instanz im Buch?

Zsuzsa Selyem: Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens: Als ich die Aufnahmen meines Großvaters hörte, fiel mir die Stimme einer Amsel auf. Zweitens: Mein Großvater sprach nie auf Augenhöhe mit mir. Ich war ja nur ein Mädchen in einer patriarchalen Gesellschaft. Er selbst war landwirtschaftlicher Ingenieur, dem das sogenannte “kommunistische” Regime massenhaft Land gestohlen hatte. Seine Familie hatte man ins Exil gezwungen, er wurde im Gefängnis fast zu Tode geprügelt. Es war, als könne ich ihn nur durch seinen Umgang mit Tieren und Pflanzen verstehen, zu denen er sich zugewandt und zärtlich verhielt.
Es hat mich selbst überrascht, wie eine Geschichte sich verändert, wenn sie aus der Perspektive eines Tieres erzählt wird. Zum Beispiel wäre das tragischste Moment im Kapitel der Evakuation eigentlich das nächtliche Klopfen an der Tür oder die schreienden Offiziere mit ihren Waffen, aber aus der Perspektive von Lux, dem Familienhund, ist es die schreckliche Stille am Morgen.

Einige Passagen im Buch sind in einem experimentellen Stil verfasst. Warum haben Sie sich dagegen entschieden, das ganze Buch in diesem Stil zu schreiben?

Zsuzsa Selyem: Der Ton des Buches wechselt von Kapitel zu Kapitel, da jedes von einer anderen Figur erzählt wird.
Wir sind es meistens gewohnt, menschlichen oder anthropomorphen tierischen ErzählerInnen zu begegnen, also ist es tatsächlich experimentell, die wirklich animalische Perspektive eines Hundes oder Käfers einzunehmen. Ich habe mich einige Jahre mit den Animal Studies befasst, also kannte ich mich in der Materie bereits aus als ich den Roman schrieb.
Ich habe viele wissenschaftliche Artikel  über die spezielle Wahrnehmung und Gewohnheiten der jeweiligen Tiere gelesen – und auch über die Bäume.
Nichtsdestotrotz wollte ich das Menschliche nicht vom Nicht- Menschlichen trennen. Wir sind alle Teil der gleichen großen Geschichte.
Ich kann einen Planeten ohne Tiere nicht akzeptieren, aber auch keinen Planeten ohne die dummen Menschen, die wir sein können.

Welches Buch, das Sie in letzter Zeit gelesen haben, würden Sie uns auch zur Lektüre empfehlen?

Zsuzsa Selyem: Ich bin hier und alles ist jetzt von Dr. Edith Eva Eger. Oder Suzan Faludi In the Darkroom. Oder Arundhati Roys Das Ministerium des äußersten Glücks. Befreiende Bücher von brillianten Frauen.

 

Titel: Regen in Moskau (Original: Moszkvában esik)
Autorin: Zsuzsa Selyem
Übersetzung: Eva Zador aus dem Ungarischen
Verlag: Nischen Verlag, Wien

 

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