von Marina Büttner (literaturleuchtet)
„Die Schmerzhaftigkeit des Lebensbeginns und meistens auch die des Endes zeigt schon an sich, dass die Welt als Ingenieursarbeit misslungen war.“
Maarja Kangros Roman „Kind aus Glas“ (Kommode Verlag) ist ein Roman zu einem höchst sensiblen Thema, das immer wieder von Schriftstellerinnen oder auch Filmemacherinnen bearbeitet wird. Es geht um die Frage, wie entscheide ich mich, wenn meinem ungeborenen Kind etwas fehlt. Wie entscheide ich mich, wenn es ein lange herbeigesehntes Wesen ist, das nur wenige Wochen gesund im eigenen Körper gedeihen durfte und dem dann plötzlich etwas fehlt?
Es ist eine lang schon gewünschte Schwangerschaft, nach unzähligen Versuchen der künstlichen Befruchtung ist es gelungen. Die Frau, 41, die sich unermesslich darauf freut, hört bei einer Ultraschalluntersuchung plötzlich: Etwas stimmt nicht. Der Fötus habe keine Schädeldecke, das bereits angelegte Gehirn wird vom Fruchtwasser weggespült werden: Akranie und Anenzephalie heißt die offizielle Diagnose.
„Pfuscht man respektlos im Leben eines anderen Wesens herum, um seine eignen Vorstellungen und sein Rechtsgefühl zu nähren, wenn man ein solches Kind zur Welt bringt? Ist das egozentrischer Unsinn, weil ein solches Wesen überhaupt kein relevantes Leben ist, das man in Betracht ziehen muss?“
Wie entscheide ich mich? Wer bestimmt, wann ungeborenes Leben lebenswert ist oder nicht? Wie weit gehe ich, wenn ich aus Eigennutz handele? Die Autorin geht diesem sensiblen Thema mit einer besonderen Art auf den Grund. Sie stellt sich alle Fragen, ethische, moralische, egoistische, ohne sich zu schonen. Sie geht in den wenigen Tagen, die ihr für eine Entscheidung bleiben, die kein Arzt infrage stellt, den Wünschen und Beweggründen der Protagonistin nach.
Kangros Roman erhält dadurch eine beinahe philosophische Dichte. Die Autorin geht weit in ihrem Denken und das macht diesen Text aus. Sie breitet keine Leidensgeschichte vor der Leserin aus, sondern überschreibt es literarisch. Trotz des schweren Themas wirkt diese Geschichte nie mitleidheischend oder gar rührselig. Den schweren Gedanken stellt sie, oft sprachlich forsch, ihren dunklen Humor und ihre Klugheit gegenüber. Einen hoch philosophischen Gedanken setzt sie im nächsten Satz der nackten Realität aus. Nie urteilt sie, auch nicht über sich selbst. Dieses Buch gleicht eher einer Selbsterforschung, einem höchst wirksamen Text, der in alle Richtungen des Themas funktioniert.
Über die Hauptfigur, eine Frau aus Estland, 41 Jahre alt, weiß man anfangs wenig. Erst ab der Mitte des Romans verändert sich die Geschichte. Die Frau erzählt von einer früheren Reise in die kriegsgebeutelte Ukraine, bei der sie ebenfalls sehr kurze Zeit schwanger war. Hier erfährt man, dass sie vermutlich eine Dozententätigkeit ausübt, bei der sie viel reist. Literatur, Lyrik, Übersetzung sind ihre Themen. Sie scheint bekannt zu sein, denn man beauftragt sie auch mit journalistischen Themen, wie in der Ukraine den Konflikt im Donbass. Auf einer weiteren Reise zu einem Stipendium in Italien muss sie sich in eine Klinik begeben, weil sich die erhoffte Schwangerschaft als Eileiterschwangerschaft heraus stellt.
Hier bin ich ein wenig irritiert, weil ich nicht ganz verstehe, wie der Aufenthalt der Autorin, die an sich interessanten Erlebnisse im Kriegsgebiet der Ukraine mit der eigentlichen Geschichte zusammenhängen. Sie wirken ein wenig wie Füllstoff, aber vielleicht sind es auch notwendige Abstandhalter. Denn zum Ende des Romans hin wird es heftig, auch für die Leserin. Doch auch hier löst sich die Frau nicht auf, sondern reflektiert. Sie hinterfragt traumatische Ereignisse und persönliches Leiden: Sind sie Schicksal und einfach hinzunehmen oder Chance zur Entwicklung und Reifung?
„Du trauerst um eine nicht existierende Zukunft. Um die Zukunft eines Wesens, die nicht verwirklicht worden ist, und um deine eigene, um deine eigene andersartige Zeit, die ausblieb.“
Meine anfängliche zarte Freude beim Lesen wurde zu Bewunderung. Mit solch erschütternden (wohl) biografischen Ereignissen so umzugehen, sie in solch starker literarischer Form zu teilen, ist große Schreibkunst. Die 1973 in Tallinn, Estland geborene Maarja Kangros ist Übersetzerin aus dem Deutschen, Italienischen und Englischen. Sie schreibt unter anderem Erzählungen und Gedichte. Der Roman „Kind aus Glas“ wurde von Cornelius Hasselblatt ins Deutsche übertragen.
- Gebundene Ausgabe: 200 Seiten, 19,90 € (D)
- Verlag: Kommode; Auflage: 1 (1. Oktober 2018)
- Übersetzung: Cornelius Hasselblatt
- ISBN-13: 978-3952462683
- Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 18 Jahren
- Originaltitel: Klaaslaps
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Ich habe auf dem feinen Blog ReadOst einen sehr starken, hoch intelligenten Roman vorgestellt:
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Danke vielmals für die Vorstellung meiner Landsliteratur! 🙂
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