Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn sich zwei Menschen von der Taille abwärts einen Körper teilen müssen und ihr ganzes Leben in dieser Verbundenheit miteinander verbringen? Der Roman „Einsame Schwestern“ (im Original „Asinkroni“) der georgischen Autorin Ekaterine Togonidze beschäftigt sich genau mit diesem Thema.
Die Protagonistinnen Lina und Diana sind siamesische Zwillinge. Gleich zu Beginn des Romans erfährt man, dass ihrem kurzen Lebensweg ein plötzliches Ende gesetzt wurde: Ihr Vater, Rostom Mortschiladze – Dozent der Tbilisser Universität – erhält ein Schreiben aus dem Krankenhaus, indem er um die Begleichung der Kosten für die Aufbewahrung des Leichnams seiner Kinder gebeten wird. Doch Mortschiladze hat keine Kinder. Vor 17 Jahren gab es zwar eine Freundin, rein rechnerisch würde es also passen, dass aus dieser Beziehung Kinder kommen könnten, aber von einer Zwillingsgeburt, vor allem von siamesischen Zwillingen, hätte er bestimmt erfahren … Diese, aber auch die darauffolgenden Nachrichten, katapultieren ihn in eine Spirale von Geschehnissen, infolge derer er seine Vergangenheit aufarbeiten muss.
Direkt nach dieser beklemmenden Anfangsszene folgen die ersten Tagebuchaufzeichnungen von Diana. Hiermit gelangt man in ihre Gedankenwelt, die von Fragen nach dem Sinn des Lebens geplagt ist:
„Ich schreibe, um zu leben. (…) Es muss doch einen Beweis geben, dass es einen gab, dass man am Leben war. Die Zeit vergeht und eines Tages sind wir nicht mehr da und dann weiß keiner, dass wir existierten. (…) Uns wird keiner eine Träne nachweinen. (…) Bloß warum ich leben soll, das weiß ich nicht. Weil es sein muss. Einfach so. Ich lebe, bedeutet für mich, wir leben.“
Selbstverständlich klingen in diesen Passagen das Bewusstsein und die Erfahrung ihrer körperlichen Fehlentwicklung mit. Diana ist sich ihrer und Linas prekären Existenz bewusst, auf sich alleine gestellt hätten sie es nur schwer in der Welt „da draußen“. Sie sind auf ihre Großmutter und deren Rente, von der sie alle leben, angewiesen. Deshalb ist Diana auch in der Einschätzung ihrer Zukunft vollkommen desillusioniert, „pessimistisch“ könnte auch die richtige Bezeichnung hiefür sein. Immer wieder bringt sie die Verärgerung über ihre Schwester zum Ausdruck. Mal ist sie unzufrieden, weil Lina ihren Kopf in eine Schüssel mit Wasser eintaucht, ein anderes Mal ärgert es sie, dass Lina mal wieder Bilder aus den Illustrierten herausschneidet.
Bald beginnt auch Lina, diejenige auf der linken Seite, ein Tagebuch zu führen. Sie ist die Verträumtere von den beiden. Sie schreibt gerne Gedichte, wünschte sich ein Freundschaftstagebuch und möchte Modedesignerin werden. In ihren Beobachtungen mag sie zwar naiver als ihre Schwester erscheinen, dafür ist ihre Gefühlswelt weitaus bunter und vielschichtiger als die ihrer eher bodenständigen Zwillingschwester. Dies betrifft auch Linas Sexualität: Sie berichtet als Erste in ihrem Tagebuch von der sexuellen Aufregung, die sie durchlebt, nachdem sie eine Liebesszene im Fernseher betrachtet. Sie sehnt sich nach körperlicher Nähe, nach sexueller Befriedigung, obwohl sie es als solches nicht benennen kann, fast wie jede Teenagerin wünscht sie sich eine romantische Liebe.
Eine unerwartete Wendung verändert das behütete Leben der Schwestern abrupt und konfrontiert sie schlagartig mit der Welt außerhalb des Hauses, indem sie bisher gelebt haben. Der Zusammenprall dieser beiden Welten mündet in einem Unglück, von der ab der ersten Seite berichtet wird.
Togonidze konstituiert die erzählte Welt durch eine Verflechtung von zwei narrativen Strängen, die – wie der georgische Titel schon suggeriert – asynchron verlaufen. In die Welt des Vaters Rostom wird man von einem allwissenden Erzähler begleitet, der auch gerne durch kleine Details wichtige Hinweise in Bezug auf seinen Charakter liefert: Er trinkt gerne, ist unordentlich und nicht mal seine Wäsche macht er selber. Allerdings erinnert sich Rostom zunehmend an seine Vergangenheit und an all das, was aus ihm einen unglücklichen Menschen gemacht hat. Diese Passagen unterbrechen die ansonsten chronologisch wiedergegebenen Tagebuchaufzeichnungen der beiden Schwestern. Durch deren Augen erfahren die Leser, wie es ist, wenn zwei von Grund auf unterschiedliche Frauen einen Körper und somit auch ihre intimsten Situationen miteinander teilen müssen.
Obgleich die Thematik und deren literarische Umsetzung anfänglich sehr interessant sind, wird so manche aufmerksame Leserin an einigen Stellen des Romans die Stirn runzeln müssen. Bedauerlicherweise rutscht die den Zwillingen bedachte Symbolik gelegentlich ins Klischeehafte und Kitschige hinein.
Der Roman bietet einen interessanten Einblick in die Gefühlswelt der siamesischen Zwillinge Diana und Lina. Er beleuchtet die Schattenseiten des „Andersseins“, der Isolation, wie auch der Angst davor, nicht akzeptiert zu werden, so wie man ist. „Einsame Schwestern“ ist eine Auseinandersetzung mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Diese kommt bei Lina auf eine simple und damit vielleicht umso eindringlichere Weise zum Ausdruck:
„Auch ich bin eine von euch. Auch ich bin … ein Mensch.“
Das Romandebüt von Ekaterine Togonidze ist 2018 beim österreichischen Verlag Septime erschienen, übersetzt wurde es von dem Tandem Nino Osepashvili und Eva Profousová.
- Gebundene Ausgabe: 180 Seiten, 20 € (D)
- Verlag: Septime Verlag (19. Februar 2018)
- ISBN-13: 978-3902711748
von Karolina Kaminska (c)