Suslins Tragikomödie Golova. Dva Ucha (Ein Kopf. Zwei Ohren, 2017) beruht auf einer wahren Begebenheit, in der Ivan Lašin sich selber spielt und dabei das traurige Schicksal des russischen Gegenwartsmenschen verkörpert.
Verwundern sollte es einen nicht, dass der junge Regisseur Vitalij Suslin gerade den Kreis Voronež als Handlungsort für seinen aktuellen Film wählt. Der Regisseur ist selber dort aufgewachsen. Nachdem dieses Jahr in der russischen Filmlandschaft mit Zvjagintsevs Neljubov’ (Loveless, 2017) und Chlebnikovs Aritmija (Arrhythmia, 2017) die Stadt im Mittelpunkt steht, zeigt uns Suslin das gegenwärtig Verdrängte. Das verwahrloste russische Dorf, in dem Armut und Arbeitslosigkeit herrscht, als Ort vor dem Ivan fliehen will, um in der Stadt ein besseres Leben zu finden. Der Film wird noch nicht in den russischen Kinos gezeigt, sondern fährt gerade nur von einem Festival zum anderen.
Aus dem Dorf…
Ivan ist Hirte von Beruf und kümmert sich um Kühe. Er wohnt in einem bescheidenen Wohnwagen direkt neben dem Stall. So nah, dass der Gestank einem in die Nase zieht beim Zuschauen. Auf den Einsatz von Filmmusik verzichtet Suslin und bewahrt durch natürliche Geräusche eine realitätsnahe Atmosphäre. In einer extremen Totalen sieht man nichts außer einer weiten Schneelandschaft um Ivan herum. Man hat das Gefühl außer ihm und seiner Mutter wohne sonst niemand in diesem Dorf. Zu erwähnen ist, dass hier Ivans tatsächliches Zuhause und auch leibliche Mutter gefilmt wurden. Alles wurde genau so gezeigt, wie es heute noch aufzufinden ist.
Die Tage sind alle gleich für Ivan. Morgens die Kühe, mittags die Suppe bei der Mutter und als Feierabendgetränk ein Energy Drink. Selbst in der Silvesternacht, der Nacht in der in Russland Wunder geschehen und man nach Rjazanows Ironija sud’by ili s lёgkim parom (Ironie des Schicksals, 1975) die große Liebe findet, geschieht nichts außergewöhnliches. Ivan ruft aus dem Wohnwagen heraus um Mitternacht bei seiner bereits schlafenden Mutter an und wünscht ihr ein frohes neues Jahr, bevor sich beide wieder schlafen legen.
Mit einem ins Dorf einfahrenden schwarzen Luxusschlitten beginnt Ivans persönliches Tragikmärchen. Ein in schwarz gekleideter junger Mann steigt aus. Mit dem hellleuchtenden Schnee im Hintergrund kommt es einem so vor, als würden sich in diesem Moment dunkle Mächte über das unschuldige Dorf verbreiten. Sogleich kommt das Angebot auf, ob Ivan nicht Lust hätte für diesen zu arbeiten. Ivan zögert nicht, packt seine Sachen und steigt ein in den schwarzen Audi in Richtung Stadt. Der Auserwählte sei eben „ein Kopf, zwei Ohren“, was im Russischen so viel wie „Schwachkopf“ bedeutet. Ivan ist nicht skeptisch und fragt nicht nach den Aufgaben der in der Stadt auszuführenden Arbeit. Man könnte hier Parallelen zu „Ivan, dem Dummen“ (Ivan Durak) suchen, der in russischen Volksmärchen als naiv und schwachsinnig dargestellt wird. Suslin will hier aber auf die Ausweglosigkeit der Dorfbewohner hinweisen, die sich auf alles Mögliche einlassen würden, um nur in die Stadt ziehen zu können.
…in die Stadt
Neben grellleuchtenden Shoppingmalls und dreckigen Hauseingängen sieht man auch Statuen ehemaliger Stadtbewohner, halbverdeckt vom bräunlichen Schnee. Darunter findet man überraschenderweise Bunin und Mandelštam, zwei für die russische Literatur wichtige Figuren der Vergangenheit. Wenige wissen, dass eine Stadt wie Voronež solch ein Kulturgut besitzt. Mandelštam zeigt sogar eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit dem 26-jährigen Protagonisten Ivan. Schaut man sich eine Pressekonferenz zum Film an, scheint es als verstelle er sich gar nicht auf der Leinwand. Man könnte fast meinen, die Kamera hätte ihn eben an diesen gezeigten Unglückstagen ohne Vorwarnung verfolgt. Er wirkt unsicher und nervös. Von der einfach gehaltenen Sprache bis hin zu den plumpen Bewegungen drückt sich Ivan genau so aus, wie man es im Film beobachten kann. Suslin sagt in einem Interview, die Arbeit mit einem Laien ähnele der Arbeit mit Kindern, man müsse nur den richtigen Moment abwarten und hätte irgendwann schon das Richtige gefilmt.
Ivan wird herausgeputzt wie Aschenputtel, welches sich seiner festlichen Umgebung, der Stadt, anzupassen hat und trifft auf seine neue Vorgesetzte Julia. Diese ist eine hinterhältige Schönheit mit großen, blauen Augen, die eindeutig einen Gegensatz bildet zum mittelprächtigen Ivan. Julia wird gespielt von Anna Machlina, einer professionellen Schauspielerin, die nicht das erste Mal in Suslins Filmen auftaucht. Durch ihr spielerisches Talent stellt sie die Laie Ivan nicht in den Schatten, sondern maskiert vielmehr seine Nervosität und schafft es so, die natürliche Atmosphäre des Films zu verstärken.
Ivan sitzt irgendwann bei McDonald’s und knabbert verbittert an seinen Pommes Frites. Erinnert man sich an die erste Eröffnung des Fastfood-Restaurants in Moskau im Jahre 1990, so denkt man an die Menschenmasse, die es nicht erwarten konnte in den Kapitalismus zu beißen. Julia und Ivan gehören zur ersten kapitalistischen Generation Russlands. Sie sind geboren in der Sowjetunion und aufgewachsen in den 90er Jahren. Die Leute in der Stadt, verbildlicht durch Julia, scheinen verdorben vom Kapitalismus, jederzeit bereit dem eigenen Bruder den letzten Pfennig aus der Tasche zu ziehen. Ivan hingegen kommt aus dem Dorf und interessiert sich im Gegensatz dazu nicht im Geringsten für Geld. Er verkörpert das unschuldige Kind, welchem die kapitalistische Verdorbenheit noch völlig fremd ist. Als Ivan mit der Stadt konfrontiert wird, kann er nur verlieren.
von Julia Kling
Suslin, Vitalij: Golova. Dva Ucha (Ein Kopf. Zwei Ohren). Russland, 2017, 78 Min.
Siehe außerdem: Bericht von Irine & Elisabeth zum 27. FilmFestival Cottbus auf Novinki.de