Die nackte Wahrheit über unsere Gesellschaft

Der russische Filmregisseur Andrej Zvjagintsev gewann in seiner noch jungen Karriere schon einige Preise für seine Werke. Spätestens mit seinem russlandkritischen Film Leviathan (2014) beeindruckte er nicht nur sein russisches Publikum und erhielt dafür eine Reihe hochkarätiger internationaler Auszeichnungen. Mit seinem aktuellen Film Neljubov’ (Loveless, 2017) liefert er wieder ein Werk auf internationalem Topniveau, welches nicht ohne Grund für einen Oscar, Golden Globe und Independent Award nominiert ist und bereits 2017 zwei Titel beim europäischen Filmpreis gewann.

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Es ist Winter in Moskau. Der Himmel ist von Wolken verhangen, die Bäume schon lange ohne Blätter und weißer Schnee bedeckt die Erde. Die Kamera zeigt minutenlang ein Stillleben unberührter Natur. Der Rückzugsort des zwölfjährigen Aljoscha (Matvej Novikov) liegt in unmittelbarer Nähe. Seine Eltern wollen sich scheiden lassen, die gemeinsame Wohnung verkaufen und mit ihren neuen Partnern zusammenziehen. In hysterischen, hasserfüllten Worten eines Streitgesprächs wird klar, dass keiner der beiden den Jungen mit in seine neue Beziehung nehmen will.

Die Dramatik des Films und das Mitgefühl des Zuschauers werden sukzessive gesteigert, als der still weinende Aljoscha hinter der Wohnzimmertür lauscht. Dies ist eine von vielen Situationen in denen sich der Titel dem Zuschauer erschließt. Aljoschas Mutter Ženja (Marjana Spivak) sitzt beim Frühstück von ihm abgewandt am Tisch und sagt nur das Nötigste. Ihre Stimme ist kalt, emotionslos und unfreundlich, schlicht: lieblos. Herzlich und emotional wird sie nur bei ihrem neuen, gutbetuchten Partner und Liebhaber.

Ihr Noch-Ehemann Boris (Aleksej Rozin) erweckt beim ersten Auftritt den Anschein eines Geistlichen. Er ist komplett in schwarz gekleidet, mit einem mächtigen Vollbart ausgestattet und nennt seinen Chef „den Herren“. Tatsächlich ist er Manager eines bedeutend wirkenden Unternehmens. Boris versucht seine Scheidung, aus Angst vor einer Kündigung, vor seinem stark religiösen Chef zu vertuschen. Seine neue, deutlich jüngere Freundin ist schwanger von ihm und lebt zusammen mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung, dem einzigen gemütlichen Ort des ganzen Films.

Aljoscha flieht eines Tages vor dem groben Umgang seiner Eltern und kommt nach der Schule nicht nach Hause. Es beginnt eine tagelange und nervenaufreibende Suche, die von der örtlichen Polizei aufgrund von Personalmangel nicht unterstützt wird. Eine Gruppe organisierter Freiwilliger hilft den Eltern bei der Suche. Es wird bewusst die Situation im aktuellen Russland, die Unzuverlässigkeit und Prioritätenpolitik der Behörden aufgezeigt.

Bilder sagen mehr als Worte

Als wäre die Handlung nicht schon herzergreifend genug, veranschaulicht der Film in jeder seiner Sequenzen einen schauerhaften und erschreckenden Umgang. Die betongrauen Hochhäuser heben sich kaum vom dauerhaft bedeckten und grauen Himmel ab. Ohne einen einzigen Sonnenstrahl wird der Zuschauer von der bleiernen Stimmung und Farbe erdrückt. Die kalte weiße Küche, das karge Wohnzimmer und der stetig laufende Fernseher machen die Wohnung steril und unwohnlich. Dem erschreckend gleichgültigen Verhalten gegenüber dem Jungen und dem puren Hass zum Ex-Partner steht der liebevolle, zum Teil erotische Umgang mit den neuen Lebensgefährten entgegen. Für die Zuschauer ist die offensichtliche Abneigung der Eltern gegenüber Aljoscha umso unverständlicher. Antworten auf die Fragen der Polizei zum vermissten Sohn zeigen das Desinteresse und den Egoismus kaltherziger Eltern.

Der Film geht über das Wort „lieblos“ hinaus, der Umgang in dieser Familie entbehrt jeder Vorstellungskraft. Die Zuschauer fröstelt es, obwohl sie im Warmen sitzen, weil die Stimmung, die Bilder, der Umgangston und die Gefühllosigkeit schwer in Worte zu fassen sind. Die fast depressive Filmmusik, welche meist sogar nur aus traurigen Klavierklängen besteht, schürt Melancholie und Bestürzung. Die unfassbar authentische Darstellung der Schauspieler lässt den außenstehenden Betrachter den lieblosen Umgang hautnah erleben. Aljoschas Eltern leben nicht in ärmlichen Verhältnissen, im Gegenteil, sie gehören sogar der Mittel- bzw. Oberschicht an. Mutter und Vater sind selten zu Hause und oft zeitgleich bei ihren neuen Partnern, ohne sich überhaupt Gedanken um ihren Sohn zu machen.

Der Film zeigt die Selbstverliebtheit und den Egoismus der heutigen Gesellschaft. Die gegenseitige Rücksichtnahme verschwindet genauso stetig, wie die Rate von Scheidungen zunimmt. Die im Film dargestellte Familie steht dabei sinnbildlich für die Entwicklung innerhalb der Gesellschaften; die Menschen denken als erstes an sich und verlieren immer mehr die Verbindung zu ihren Mitmenschen. Lediglich die Gruppe Freiwilliger, welche sich tatkräftig an der Suche beteiligen, zeigt dass es doch noch Ausnahmen gibt. Der Film zeigt wie die Menschen in Moskau, einer Stadt mit mehr als 12 Millionen Einwohnern, aneinander vorbeileben. Die Digitalisierung und die Nutzung von Smartphone, Facebook, Instagram und ähnlichem entfernen die Menschen von der Realität und erodieren unseren sozialen Umgang. Aljoschas Eltern sind die ganze Zeit mit ihrem Smartphone beschäftigt, sehen Fern, lesen News im Internet und bekommen wenig von ihrer Umwelt mit. Schlimmer als die Bilder ist nur die Gewissheit, dass dieses Szenario oft schon in der Realität zu finden ist und die Verrohung unserer Gesellschaft zugenommen hat. Zvjagintsev schafft in diesem dramatischen Mikrokosmos ein Spiegelbild für die Krankheiten der russischen, aber auch allgemein aller Gesellschaften. Die Anspielung liegt auf dem materialistischen, kapitalistischen und egoistischen Denken, welches das humanitäre Handeln verdrängt hat.

Dem Zuschauer wird auf brutale Art und Weise auf der emotionalen Ebene verdeutlicht, wie wichtig Liebe, Mitgefühl und Geborgenheit im sozialen Umgang mit den Kleinsten unserer Gesellschaft und im Miteinander sind.

von Arvid Thamm

Zvjagintsev, Andrej: Neljubov’ (Loveless). Russland, 2017, 127 Min.

Siehe außerdem: Bericht von Irine & Elisabeth zum 27. FilmFestival Cottbus auf Novinki.de

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