„Als flöge ein kleiner Vogel davon“: Marjana Gaponenko – „Annuschka Blume“

AnnuschkaBlume-ok.inddDie aus Odessa stammende deutschsprachige Autorin Marjana Gaponenko hat mittlerweile ihren dritten Roman mit dem Titel „Das letzte Rennen“ (C. H. Beck Verlag) veröffentlicht und wird im Feuilleton breit besprochen. Diese Buchbesprechung konzentriert sich allerdings auf ihr erstes Romanprojekt „Annuschka Blume“ aus dem Jahr 2010, das im österreichischen Residenz Verlag erschienen ist.

Gaponenko ist mit ihrem Debüt direkt ein besonderes Buch gelungen, das trotz der postmodernen literarischen Tendenzen zur klassischen Tradition des Briefromans zurückkehrt und in dem sich eine mitreißende Liebesgeschichte zwischen Annuschka und Piotr entwickelt. Anna Konstantinowna ist als Lehrerin in der ukrainischen Provinz tätig. Der Journalist Piotr ist die wichtigste Person in ihrem Leben und die Briefe, die sie regelmäßig aus dem fernen Ausland von ihm empfängt, das Elixier ihres Lebens. Piotr hält sich in Bagdad auf und will durch sein Forschungsprojekt „(…) beweisen, dass es keinen Unterschied (…) zwischen Bergen und Steppe“ (gibt). Doch in Wirklichkeit ist es die Poesie, die seine Forschung leitet. Die philosophierenden Gedanken werden im Briefwechsel durch die Zärtlichkeiten abgelöst, die die beiden Liebenden in einer besonders emotionalen Sprache wiedergeben. Piotr träumt von seiner Heimat am Schwarzen Meer und Annuschka erzählt von ihrem Alltag in der Schule und von ihren Nachbarn. Die Briefe zeugen von einer romantischen Sicht auf die Welt, die wiederum nie ins Kitschige oder Konstruierte übergeht:

„Wie Sie wissen, liebe Anna Konstantinowna, heißt die beste Kartoffelsorte unserer Heimat Sineglazka, Blauäuglein. Oder die anderen, hören Sie nur, wie sie klingeln: Adretta, Diamant, Nikita, Udatscha, Glück, Wodopad, Wasserfall, Podsneschnik, Schneeglöckchen! Die Bauern selbst sprechen diese Namen ohne jedes Pathos aus. Sie tun es den besten Dichtern nach, die, um ihren Zauber wohl wissend, beim Vortrag der romantischsten Stelle nicht mit der Wimper zucken. Die Bauern sind (…) Dichter der Erde (…).“

Nicht nur die Bauern, sondern die beiden Briefadressaten beherrschen die Sprache der Poesie auf hohem Niveau und sehen die Welt mit einer Brille, die in den kleinsten Details aus dem Alltag das Existenzielle schöpfen kann. Anna und Piotr sind kein Liebespaar von klassischen Art. Die Gefühle sind es, die ihre Leben bestimmen und das Glück, das auch im Unglück dominieren kann:

„Ob ich unglücklich bin? Auch ein unglücklicher Mensch ist ein glücklicher, allein weil es ihm gegeben ist zu empfinden. (…) Mein lieber Piotr Michailowitsch, ich zweifle, dass es Sie gibt. (…) Heute ist mir jedoch, als wäre ich Sie. Heute komme ich mir einsam vor und doch so erfüllt, als wären wir zu Tausenden da, ein Schmetterlingsschwarm.“

Anna schreibt für Piotr die Aufsätze ihrer Schüler auf und lässt sich von ihm für ihren Unterricht inspirieren. Sie füllen die Leben gegenseitig mit Liebe, Dichtung, Fantasie und Sinn. Sie kommen sich zwar nie körperlich nah, sind aber zugleich sehr eng miteinander verbunden. Sie tauschen ihre Träume aus, denken über die Vergangenheit und Zukunft nach und geben einander die Kraft zum Leben. Eine besondere Lektüre während der winterlichen Tage, die den Blick von LeserInnen für das Besondere im Unscheinbaren schärfen will.

 
von Irine

Marjana Gaponenko (2010): Annuschka Blume. Salzburg/Wien: Residenz Verlag. 

 

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