MIROVIA, LITIOTOPIA und UKRAJINA: Interview mit dem Autor Poljak Wlassowetz

Poljak Wlassowetz kann man wohl ohne Zweifel als Kosmopoliten bezeichnen. In Deutschland mit ukrainischen Wurzeln geboren, verschlug es den in Berlin lebenden Autor und Politologen in zahlreichen Reisen nach Südamerika. Im Literaturverlag Kopf & Kragen ist nun sein zweiter Roman „LITIOTOPIA“ erschienen. Wir haben mit ihm über seine Bücher und Pläne gesprochen.

Herr Wlassowetz, in Ihren Büchern „MIROVIA“ und „LITIOTOPIA“ reisen Sie mit
den Lesenden in den Marianengraben und in die Vergangenheit Boliviens. Woher
ziehen Sie die Inspiration für Ihre Geschichten und Ihre Charaktere?

Eine wesentliche Inspirationsquelle für meine Geschichten und meine Charaktere ist das Reisen und damit verbunden, die Begegnung und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und Kulturen. Als Reisender gilt es, zu beobachten und zuzuhören. Man muss die Bereitschaft aufbringen, Menschen und Situationen wertfrei wahrzunehmen, sich in sie hineinfühlen und dann das Wahrgenommene mit den eigenen Erfahrungen und vermeintlichen Gewissheiten abgleichen. In diesem Prozess entstehen dann Charaktere. Natürlich spielen auch zufällige Ereignisse eine Rolle sowie die Menschen, dir mir alltäglich begegnen und meine eigenen Unzulänglichkeiten. Literatur, Filme, Musik und Kunst verüben ebenso Einfluss auf mich.
Ich bin immer auf der Suche nach Möglichkeitsräumen, die ich schreibend erkunden kann. Die Tiefsee und Bolivien sind aufgrund ihrer Andersartigkeit und ihrer Unvertrautheit ebensolche Möglichkeitsräume. MIROVIA lässt sich zum Beispiel oberflächlich als Abenteuerroman lesen, der auf einem realen Ereignis basiert: Ein Ozeanograf und ein Marineleutnant tauchen im Jahr 1960 zum tiefsten Punkt des Pazifiks hinab und werden dabei mit ihren eigenen Abgründen und Sehnsüchten konfrontiert. Aber eigentlich handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit dem verschwommenen Begriff der Wahrheit. Die Welt hat sich auf die Aussagen von zwei Menschen verlassen, namentlich Jacques Piccard und Don Walsh, eben darauf, was sich in der Finsternis des Marianengrabens zugetragen hat, ohne den Wahrheitsgehalt infrage zu stellen. Die unermesslichen Weiten der Tiefsee und ihre verborgenen Geheimnisse haben sich daher gut angeboten, um eine Alternativgeschichte zu erzählen, und dabei das Wahrheitsdilemma auch auf zwischenmenschliche Beziehungen zu übertragen.
In LITIOTOPIA geht es um die Unfähigkeit des Menschen, angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt, angemessen zu handeln, und um das Verkümmern von visionären Ideen. In den beinahe zur Demut zwingenden Landschaften Boliviens, wie in der mystischen Salzwüste Salar de Uyuni, in deren Untergrund das weltweit größte Vorkommen des für unsere modernen Technologien benötigten Leichtmetalls Lithium lagert, und den mythologischen Erzählungen von Erlöserfiguren aus dem Andenhochland habe ich die Möglichkeit gesehen, die Zufluchtsorte Traum und Rausch, die vielleicht letzten verbliebenen Räume für visionäre und utopische Gedankenspiele, zu erforschen.

„Eine existenzielle und psychedelische Reise“ lautet die Beschreibung zu
„LITIOTOPIA“. Was war die größte Herausforderung beim Schreiben des Buches?


Die größte Herausforderung war wahrscheinlich, ein derart politisches Thema wie den Neokolonialismus in einem literarischen Text zu verarbeiten, der zugleich die Möglichkeitsräume Traum und Rausch ergründen und eine Zukunftsperspektive eröffnen will. Hinzu kam, dass die bolivianische Geschichte, die Mythologie, die Lebensgewohnheiten und die Begrifflichkeiten sowie die politische Situation in Bolivien hierzulande recht unbekannt sind. Es galt also eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was in Bolivien seit Jahrhunderten vor sich geht, was war, was ist und was sein kann, und unserer europäischen Verantwortung hierfür. Zugleich musste der Text sprachlich und erzählerisch zugänglich sein.
Außerdem droht, wenn man über andere Kulturen schreibt, schnell der Vorwurf, der kulturellen Aneignung. Es besteht auch die Gefahr der Romantisierung und Idealisierung von Gesellschaften und ihrer Geschichte, womit man ihrer Komplexität nicht gerecht wird. Dennoch glaube ich, dass es ein Wesensmerkmal von Literatur ist, sich in andere kulturelle Zusammenhänge, in Menschen und unvertraute Situationen einzufühlen. Als ein Ausdruck von Offenheit, Wertschätzung und der Bereitschaft zum Austausch. Literatur kann die Möglichkeit bieten, anderen Lebenswelten zu begegnen und uns so zum Mitfühlen, zum Nachdenken und vielleicht sogar zum Handeln anregen. Womöglich ist das auch ein vermessener Gedanke.


Haben Sie lange recherchieren müssen? Wie lange haben Sie daran gearbeitet?

Insgesamt habe ich etwa viereinhalb Jahre an LITIOTOPIA gearbeitet. Dem eigentlichen Schreib- und Überarbeitungsprozess sind eineinhalb Jahre Recherche und mehrere Aufenthalte in Lateinamerika vorausgegangen – unter anderem in Peru, Kolumbien, Mexiko, Kuba und natürlich in Bolivien. Ich habe dort die alten Silberminen in der Bergbaustadt Potosí aufgesucht, den Salar de Uyuni durchquert und mich im bolivianischen Amazonasbecken von einem Schamanen und seinen Tränken hinter die Welt des Offensichtlichen führen lassen.

Zahlreiche Reisen haben Sie nach Südamerika gebracht. Was fasziniert sie an
Lateinamerika?


Neben dem reichen kulturellen Erbe, der menschlichen Vielfalt und der landschaftlichen Schönheit faszinieren mich insbesondere die historische Verbundenheit mit Europa sowie die politischen Umbrüche in den vergangenen Jahrzehnten. Wirft man einen Blick auf die Landkarte, dann scheint Lateinamerika weit weg zu sein. Ein ganzer Ozean liegt zwischen uns. Bei näherer Betrachtung wird allerdings klar, wie eng die lateinamerikanische und die europäische Geschichte und ihre Kultur miteinander verflochten sind. Wir kommen auch nicht umhin, uns einzugestehen, dass der europäische Wohlstand zu wesentlichen Teilen auf der jahrhundertelangen Ausbeutung Lateinamerikas basiert. Diese Ausbeutung ist nicht vorbei, sondern wird in Form eines unter dem Deckmantel der Entwicklung verhüllten Neokolonialismus fortgeführt. Unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft sind also eine gemeinsame. Es liegt an uns allen, ob sich die Geschichte für immer wiederholen wird.
Lateinamerika ist eine politisch spannende, aber leider arg gebeutelte Region. Obwohl oder gerade weil diese Weltgegend über immense Bodenschätze verfügt, zählt sie zu jenen Regionen mit der größten sozialen Ungleichheit. Ausbeutung. Armut. Systemkämpfe. Diktaturen. Revolutionen. All dies zeigt sich in Lateinamerika in einer extremen Form. Zugleich werden dort Lebens- und Gesellschaftskonzepte erprobt, die auch für Europa von großem Nutzen sein könnten. Etwa das auf Vielfalt, Genügsamkeit und Solidarität beruhende Konzept des “guten Lebens”, welches seit 2009 in der bolivianischen Verfassung verankert ist, im Roman LITIOTPIA behandelt wird und den Versuch darstellt, eine nachhaltige, gerechte und kollektiv denkende Zivilisation zu schaffen. Wobei an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass in Bolivien Anspruch und Wirklichkeit noch weit auseinanderklaffen und die unter dem ehemaligen Präsidenten Evo Morales vollzogenen Reformen sowie sein jahrelanges Festhalten an der Macht in der Bevölkerung durchaus umstritten sind. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es notwendig ist, sich für Ideen und Visionen zu öffnen, für Utopien, die außerhalb unseres europäischen Vorstellungshorizonts liegen. Wir dürfen unseren Blick nicht länger nach unten wenden, wenn wir vermeintlich unterentwickelte Staaten und ihre Menschen betrachten, sondern müssen einander auf Augenhöhe begegnen, um voneinander zu lernen.

Wie viel Poljak steckt in ihren Figuren?

Wahrscheinlich mehr, als mir lieb ist. Nehmen wir zum Beispiel Amaru Federmann, den Protagonisten des Romans, der aufgrund seines Wohlstands lethargisch geworden ist und den Blick für seine Mitmenschen verloren hat. Er nimmt die Ungerechtigkeiten in der Welt wahr und schafft es dennoch nicht, einzugreifen und angemessen zu handeln. Er ist abgestumpft und verdrängt, was in der Welt vor sich geht, um das Leben zu ertragen. Selbstbespiegelung. Selbstverwirklichung. Selbstoptimierung. Selbstausbeutung. All dies sind Symptome unserer Zeit, an welchen ich vielleicht auch leide. Aber hoffentlich in einem geringeren Maße als Amaru. Tika, Amarus Jugendliebe und spätere Gegenspielerin, die mit ihrer Bewegung 3. Juli versucht, das “gute Leben” nach Europa zu bringen und die Machenschaften der Federmänner zu unterbinden, vertritt Werte, die mir natürlich nicht fremd sind: Gleichheit. Gerechtigkeit. Die Akzeptanz der Andersartigkeit. Wobei mir beispielsweise ihre Idee, einer gewaltvollen Welt mit Gegengewalt zu begegnen, gänzlich widerstrebt und ihr Idealismus meinem Realismus entgegensteht. Letztlich aber sind die Figuren, die sich meiner Kontrolle früher oder später entziehen und ein Eigenleben führen, eine Art Experimentierfeld, um Gedanken und Gefühle auf ihre Sinnhaftigkeit hin zu überprüfen, und kein Abbild von mir.

Ihr dritter Roman trägt den Titel „UKRAJINA“. Was können Sie uns darüber
verraten?

Über unfertige Texte zu sprechen ist ein großes Wagnis. Daher nur so viel: Ich arbeite seit etwa einem Jahr an meinem dritten Roman mit dem Arbeitstitel UKRAJINA. Hintergrund ist der seit 2014 andauernde Konflikt im Osten des Landes, der bis zum russischen Überfall vor wenigen Wochen kaum Aufmerksamkeit erhalten hat. Ein vergessener Krieg in Europa, der uns nun alle mit immenser Wucht eingeholt hat. Meine Vorfahren stammen aus der Nähe von Odessa, ich wurde aber in Deutschland geboren und ich verstehe mich in erster Linie als Bewohner des Planeten Erde. Dennoch besteht seit jeher eine rätselhafte Verbindung mit der Heimat meiner Vorfahren. Heimat. Ein Begriff, der für mich nie eine besondere Rolle gespielt hat, aber durch die in den letzten Jahren zunehmende Bedrohung der Ukraine präsenter geworden ist und mich zum Schreiben eines neuen Romans veranlasst hat. UKRAJINA handelt von einer familiären, aber letztlich fiktionalen Spurensuche am lange vergessenen Rand Europas. Es ist ein Text über die menschliche Angewohnheit zu verdrängen und zu verschweigen, über den Verlust und das Verschwinden von Menschen und Nationen, über die Brüchigkeit von vermeintlichen Gewissheiten und imperialistischen Größenwahnsinn.
Ob und wie sich der Roman angesichts des brutalen Angriffskriegs durch Russland weiterentwickelt, werden die nächsten Monate zeigen. Im Moment hoffe ich nur, dass der Krieg und das damit verbundene Leid baldmöglichst zu Ende gehen und sich die aktuelle politische und zivilgesellschaftliche Hilfsbereitschaft der Europäer nicht erschöpft. Die Solidarität mit der Ukraine darf nie wieder verebben.

Vielen herzlichen Dank für das Interview, Herr Wlassowetz!

Von Annika Grützner

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