Aus der Familie in eine Sekte und zurück. Aleksej Poljarinovs Roman „Riff“

von Darya Shevchuk

Aleksej Poljarinov, laut dem Esquire-Projekt einer der jungen und erfolgreichen „12 Apostel“, veröffentlichte im Oktober 2020 seinen neuen Roman „Riff“ [Rif]. Es handelt sich um sein viertes Buch, das auf den Sammelband „Fast zwei Kilogramm Wörter“ [Počti dva kilogramma slov] (2019) und die Romane „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus [Pejzaž s padeniem Ikara] (2013), sowie „Der Schwerpunkt“ [Centr tjažesti] (2018) folgt.
Der vorliegende Roman erzählt von Sekten und Geheimbünden. Im Zentrum der Ereignisse steht eine Mutter-Tochter-Geschichte. Zwei Töchter versuchen ihre Mutter zu retten, die in eine Sekte geraten ist. Alle Ereignisse passieren vor dem Hintergrund dieser Geschichte. Die Komposition des polyphonen Romans basiert auf drei parallelen Handlungssträngen, in denen mehrere Hauptfiguren auftreten. Der Autor macht die Leser_innen mit der Welt jeder einzelnen Figur bekannt, jede dieser Welten ist gleich relevant.
Die Kapitel sind abwechselnd nach den Hauptfiguren benannt, aus deren Perspektive jeweils erzählt wird. Jede endet mit einem Cliffhanger. Am Beginn wird von der Kindheit der Heldinnen berichtet sowie von deren Verhältnis zur Mutter.

„Gib den Leuten die Freiheit und sie werden sofort jemanden suchen, vor dem sie die Knie beugen können.“

Dieser Satz Fedor Dostoevskijs begleitete den Autor während der gesamten Arbeit an Rif. Die Idee zum Roman kam ihm, als er einen Familienstreit zwischen seiner Tante und seiner Großmutter beobachtete. Es ging darin um typische Meinungsverschiedenheiten zwischen Kindern und ihren Eltern, um Missverständnisse, die diese seit Jahren nicht überwinden konnten: Paradoxerweise glauben Eltern häufig, ihrem Kind alles gegeben zu haben, während das Kind der Meinung ist, die Eltern hätten ihm alles gegeben, außer dem Notwendigen.
Später, als Poljarinov auf einen Artikel über Napoleon Chagnon, einen amerikanischen Anthropologen, der das Buch „Yanomamö: The Fierce People“ verfasst hat, stieß, setzte er seine Recherche über Sekten fort und fand heraus, dass eine Sekte viel mehr beinhaltet als das harmlose Verteilen von Flugblättern. Aus den Beobachtungen familiärer Beziehungen und der Auseinandersetzung mit dem Thema Sekten entstand bei ihm die Idee zum vorliegenden Roman, dessen beide Hauptthemen Familienverhältnisse und Sekten sind.
Die Ähnlichkeit zwischen der zentralen Figur Garin und dem Anthropologen Napoleon Chagnon ist offensichtlich. Ihnen werden dieselben Dinge unterstellt: Während Chagnon die Ausbreitung einer Epidemie unter Yanomamö angezettelt haben soll, wird der fiktionale Garin für den Genozid an einer ethnischen Minderheit Mikronesiens, des Stammes der Kachachasi, verantwortlich gemacht. Beide Anthropologen suchen die Stämme bewaffnet auf, angeblich um sich zu schützen und die Genealogie des jeweiligen Volkes zu erforschen. Es existieren jedoch keine gerichtlichen Belege für ihre Schuld. Abgesehen davon, beteuert der Autor, dass alle Figuren und Ereignisse fiktiv sind und dass eventuelle Ähnlichkeiten zwischen Charakteren und realen Personen rein zufällig seien. Es gibt jedoch in vielerlei Hinsicht Übereinstimmungen, was nahe legt, dass das vorliegende Buch eine Synthese aus der im Nachwort angeführten Literatur und eigenen Ideen darstellt.

Alle waren beteiligt

„- Ich war an allem beteiligt.
– Woran? Woran waren Sie beteiligt?
– Am Gewerbe.“

Auch das Regierungssystem wird im Roman kritisch beleuchtet. Es wird ein gewisser Putsch aus dem Jahr 1964 geschildert, bei dem Arbeiter gegen die Lebensmittelknappheit demonstrierten.  Während des Protestes werden sie grausam getötet und im Anschluss daran aus dem kollektiven Gedächtnis ausgelöscht. Diese Ereignisse erinnern an den Arbeiteraufstand 1962 in Novočerkassk, bei dem Arbeiter der Elektrolokomotivfabrik gegen gesteigerte Preise und verringerte Löhne protestierten. Dieser Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, wie auch der im Buch beschriebene „Sulimer Putsch“.
Der „Sulimer Putsch“ zeigt deutlich die Einstellung der Regierung im Umgang mit Demonstrationen. Womöglich wollte der Autor seine Kritik an der aktuellen Regierung zum Ausdruck bringen, als Regierung, die ihr Land positiv präsentiert und Ereignisse wie den „Sulimer Putsch“, die in ähnlicher Form häufig vorkommen, systematisch verheimlicht, wobei alle Beteiligten die unausgesprochenen, vereinbarten Regeln befolgen müssen. Ein solches System erinnert an eine Kette mit mehreren Gliedern. Wenn man Teil eines Systems ist und dieses aus dem Gleichgewicht bringt, wird man ausgelöscht – wie Nina Kitce, eine der Figuren des Romans. Dieser Teil des Romans veranschaulicht die globalen Verbindungen der Ereignisse. Die Beteiligung von Menschen an dieser Art von Aktivität erinnert zudem an eine Sekte.

Wir können unsere Eltern nicht verändern, aber wir können unsere Einstellung ihnen gegenüber ändern

„Wenn meine Mutter ein Prophet wäre, dachte Tanja, hätte sie nur ein Gebot: „Vergesst nicht, zu leiden“.

Familienverhältnisse sind eines der zentralen Themen von Rif. Der Autor macht uns mit der kleinen Tanja bekannt, die bei ihrer Mutter und ihrer Schwester in Moskau aufwächst. Man kann ihre Beziehungen nicht als harmonisch bezeichnen, da es an Nähe zwischen Mutter und Töchtern fehlt. Jede der Frauen lebt mit ihrer „Last“: Während die Mutter mit einer Traumatisierung aus der Vergangenheit kämpft, geht es bei Tanja um das Entstehen einer solchen in der Gegenwart. Tanja folgt meist den Vorschriften ihrer Mutter, und, wenn nicht, tut sie das heimlich. Sie ist es gewohnt, mit ihrer Mutter so zu kommunizieren, als würden sie auf verschiedenen Seiten einer Schlucht stehen. Die fehlende Leichtigkeit in diesem Verhältnis belastet Tanja. Der Fokus in dieser Geschichte liegt darauf, dass man sich an Situationen anpassen und gewöhnen kann, doch solange man diese nicht löst, bleibt man darin gefangen. So ergeht es Tanja, die von ihrer Mutter stets zu hören bekam: „Du hast dir dieses Leben selbst ausgesucht. Beklage dich also nicht.“

Depersonalisierung

„–  Wie lange bin ich hier schon? – fragt sie. – Wie lange verstecke ich mich? Marta zuckt mit den Schultern.
– Einen Monat, so in etwa.
– Und mein Körper hat die ganze Zeit sein eigenes Leben gelebt?
– Jepp.“

Tanya versucht, ihre Mutter aus der Sekte zu befreien, und gerät selbst in deren Abhängigkeit. Trotz des gut ausgearbeiteten Plans werden nämlich Tanya, Li und Ilya von den Sektierern als Geiseln gehalten. Gefangen in einer Grube werden sie auf jede erdenkliche Weise verspottet. Die Folgen der Grube, in der die jungen Frauen nach dem misslungenen Interview mit dem Anführer der Sekte gelandet sind, sind gravierend, beide Frauen befinden sich in den Fesseln ihres Unbewussten. Die Depersonalisierung ist wohl das spannendste Thema im ganzen Buch. Der Mensch erlebt seine Handlungen wie von außen aus und hat keine Kontrolle darüber. Die physische Welt ist quasi abgetrennt vom Bewusstsein, der Mensch befindet sich in einem unbewussten Zustand. Um sich von diesem Zustand befreien zu können, müssen die jungen Frauen ihre inneren Konflikte lösen, mit der Vergangenheit abschließen und fortleben.

Sobald eine Person einer Sekte beitritt, wendet sie sich von ihrem bisherigen Leben und allem, was damit verbunden ist, ab, während der Einfluss von außen durch den Geheimbund selbst als etwas Feindliches betrachtet wird. Kaum der Sekte beigetreten, verliert die Person ihr „Ich“. Typische Opfer von Sekten sind Personen, die sich in einer instabilen, stressreichen Situation befinden, und daher leicht zu manipulieren sind. Diesen Ablauf können wir in Rif beobachten, als Tanjas Mutter im Briefkasten folgenden Flyer findet: „Wir helfen Ihnen im Umgang mit Verlust und Heilung von seelischen Verletzungen. Anleitung zu einer geistigen Wiedergeburt. Erste Trainingseinheit gratis…“ Das Buch ist in seiner Thematik aktuell. Der Autor spricht ein Thema an, das zuvor in dieser Form nicht behandelt wurde.

Der Kampf der Vergangenheit gegen die Gegenwart

„Die Gegenwart dirigiert die Vergangenheit wie die Musiker eines Orchesters. […] Deshalb erscheint die Vergangenheit mal näher, mal ferner. Mal erklingt sie, mal schweigt sie. Auf die Gegenwart wirkt nur der Teil der Vergangenheit ein, der dafür nötig ist, um diese Gegenwart ans Licht zu bringen, oder sie zu verdunkeln.“ Italo Svevo, „Zenos Gewissen“.

Das Buch handelt von Sekten, Geheimbünden, Beziehungen und der Zeit. Die Zeit ist der Mittelpunkt des Ganzen. Die Zeit wird im Buch als etwas Essentielles betrachtet, das unser Dasein bestimmt. Die Ereignisse, die in unserem Leben stattgefunden haben, manipulieren unsere Gegenwart. Um sich von den eigenen Lasten zu befreien, muss man die Probleme in der Vergangenheit lösen, was im Handlungsstrang der jeweiligen Hauptfigur auch geschieht. Der Autor spielt mit der Zeit und versetzt die Leser_innen in jedem Kapitel in eine andere Zeitdimension. Die Leser_innen können die kausalen Verbindungen zwischen dem Schicksal der Hauptfiguren und ihre Art, mit den gegebenen Umständen umzugehen, deutlich nachvollziehen.
Hervorzuheben ist an diesem Roman, dass er Themen behandelt, über die man mehr erfahren möchte. Das Buch verdeutlicht die Schrecken von Geheimbünden, die in Russland historisch eine lange Tradition haben, doch auch im Hier und Jetzt existieren und immer mehr Menschen anlocken.
Zugleich verbindet der Roman drei Themen: Sekten, familiäre Verhältnisse und Macht. Er ist sehr spannend erzählt und fesselt die Leser_innen bis zum Schluss. Genau das macht den Erfolg dieses bislang unübersetzten russischen Bestsellers aus.

Poljarinov, Aleksej: Riff. Inspiria. Moskau, 2020.

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