Stadt und Land: „Erinnerung an den Wald“ und „Das Mundstück“

Die Gegenwartsliteratur beschäftigt sich immer mehr mit den Gegensätzen zwischen Stadt- und Landrealitäten. Die aktuellen Land- und Stadtromane schaffen teilweise unterschiedliche Lebenswelten, denen auf den ersten Blick nichts verbindet. Mit den folgenden zwei Rezensionen wollen wir euch zwei Titel vorstellen, die mit dem  Stadt-/Landmotiv spielen.

von Annika Grützner

Erinnerungen_an_den_Wald_KarakasDie Welt des Protagonisten von Damir Karakaš ist hart und rau. In „Erinnerung an den Wald“ (Folio Verlag, aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof) beschreibt der kroatische Journalist und Autor die Welt des Bauernjungen in all ihren Facetten des Dorflebens der 70er-Jahre in Jugoslawien. Von Geburt an an einer Herzkrankheit leidend, ist dieser das Sorgenkind der Familie. Für die Arbeit auf dem Hof ist er oft zu schwach, die gemeinsamen Streiche der Nachbarskinder sind nicht immer wohltuend für seinen Zustand. Dennoch lebt auch er ein scheinbar typisches Leben auf dem Dorf zwischen Aberglauben und Moderne.

In kurzen Kapiteln erzählt Karakas von eingängigen Bildern des jungen Protagonisten. Immer spielt dabei auch der Blick nach außen, insbesondere in die Stadt, eine Rolle. Das Dorf hängt in der Entwicklung hinterher, ist fast schon von der Außenwelt abgeschnitten. Mittelpunkt des Geschehens wird so u. a. der neue Schwarz-Weiß-Fernseher der Familie, den der Vater mittels blauer Folie zu einem Farbfernseher umfunktioniert und so dafür sorgt, dass nun alles in einem blauen Schimmer erscheint. Ein weiteres, großes Highlight ist der erste Kinofilm, den die Kinder in der nächstgelegenen Stadt sehen, die für sie zum Sehnsuchtsort wird: „Ich beneide die, die im Ort leben, sie haben ein Kino und werden noch in wenigen Minuten zu Hause sein, wir zwei müssen aber noch kilometerweit durch die Dunkelheit.“
„Erinnerung an den Wald“ enthält kurzweilige Erzählungen, die den Zahn seiner Zeit gut wiedergeben.


41yFDALh7HLMit Bianca Kos´ „Mundstück“ (Otto Müller Verlag) springen wir in die Gegenwart und in die Stadt. In ihrem Buch beschreibt die österreichische Journalistin, Autorin und in Fremdsprachenlektorin ihren längeren Aufenthalt im ostukrainischen Charkiw in Form eines teilweise überspitzten, teilweise urkomisch ehrlichen Romans. Gemeinsam mit deutsch lernenden Studierenden will Kos die Vorzüge Charkiws zu einem Buch machen und damit endlich den ersten deutschen Reiseführer veröffentlichen. Kein einfaches Vorhaben, ist die Stadt doch nicht unbedingt die attraktivste für Touristen und liegt in der Nähe des umkämpften Gebiets im Donbas: „Diese für ein Städteleben gerade im jugendlichen Flegel-Alter stehende Stadt besteht zu achtzig Prozent aus Straßen mit Schlaglöchern, zu neunzig Prozent aus Straßenfegerinnen, zu neunundneunzig Prozent aus lackierten Fingernägeln und zu hundert Prozent aus nicht trinkbaren Leitungswasser“.

„Mundstück“ macht Spaß. Kos liebt und hasst die Stadt und das spürt man auf jeder Seite ihres Romandebüts. Mit sehr viel Selbstironie berichtet sie so zum Beispiel von den von ihr gefürchteten Babuschkas, die hinter jeder Ecke lauern und aufpassen, von ihren beginnenden Freundschaften mit diversen Olgas und Nataljas, und von ihren Touren zwischen grauem Plattenbeton, die ihr Charkiw näher bringen. Doch natürlich steckt noch viel mehr dahinter. So entsteht mit dem Roman ein unterhaltsamer ganz anderer Reiseführer, in dem sich die Autorin von ihrem westlichen Bild lösen und die Stadt in ihr Herz schließen kann.

 

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