Wilder Ritt durch Zaporoschje: „Puschkins Erben“ von Svetlana Lavochkina

von Annika Grützner

lavochkina---puschkins-erben„Puschkin mit uns, Dickens mit denen!“ lautet der Leitspruch der Einwohner des ukrainischen Zaporoschjes. Durch jenes verschlafene Dorf reiste Puschkin angeblich im Jahr 1820 auf dem Weg in seine Verbannung, verlor hier einen wertvollen Ring und schwängerte die Frau eines Gastwirtes. 150 Jahre später springen wir in die Zeit des Kalten Krieges mitten in das weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer der scheinbaren Nachkommen dieser Liaison. Die Familie Winter/Katz/Knoblauch ist ein bunter und chaotischer Haufen. Ebenso bunt und chaotisch wird ihre Geschichte in Svetlana Lavochkinas Roman „Puschkins Erben“ (erschienen bei Voland & Quist aus dem Englischen von Diana Feuerbach) erzählt.

Vorab sei gesagt: „Puschkins Erben“ sprüht nur so von Fäkalsprache und grenzwertigen Begegnungen. So sitzt Alka Katz auf ihrem Weg von Moskau nach Zaporoschje in ihrem Zugabteil dem in der Stadt ansässigen Frauenheilkundler Arifón Esaw-Yantz gegenüber, der ihr sogleich eine langwierige Spezialuntersuchung anbietet und von seinen Spezialpillen erzählt, die lustlose Frauen zu willenlosen Sexmonstern machen soll. Auch später wird der Doktor noch einige denkwürdige Auftritte haben. Dies soll nur als ein Beispiel des speziellen Humors der Autorin dienen, die ihre Figuren scheitern und sich schlecht darstellen lässt. Auch Alka, eine junge Literatur- und Sprachwissenschaftlerin und Cousine der Familie, porträtiert sich selbst in städtischer Überheblichkeit: „Was Zaporoschje anging, war sie einerseits ganz einer Meinung mit dem Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin: „Zap – der Blinddarm der Welt!“ Andererseits, gestand sie sich zögerlich ein, ließ sie sich gern umsorgen von den hinterwäldlerischen Verwandten, die sich dort um sie scharten. Es war ihre Mission, ein wenig Licht in die Kleinstadttristesse dieser Leute zu bringen. Schließlich war sie von Kopf bis Fuß gebildet.“

„Puschkins Erben“ begleitet so viele Figuren aus der Familie, dass es schwer ist, sie alle vorzustellen, ohne zu viel von den Geschehnissen vorwegzunehmen. Da ist der erfolglose Dichter und Lehrer Josik Winter, der seinen Schülern vergeblich mit obskuren Methoden die russischen Klassiker näherbringen will. Es gibt seinen jeansfälschenden Cousin Mark, der seiner Frau, einer berühmten Eiskunstläuferin, in die USA folgt – in den kapitalistischen Westen, der sogleich von der Familie verteufelt wird: „Jene Welt ist gefährlich und gleichgültig. Sogar die Farben sind wider die Natur. Ich habe in der Literaturzeitung gelesen, dass Sowjetbürger in amerikanischen Lebensmittelgeschäften ohnmächtig werden. Die Abertausenden von grellbunten Plastikflaschen sind Gift für die Augen.“

Währenddessen haben die Großmütter der Familie einiges zu tun, die Bande zusammenzuhalten. Enkelkind Sonka verschwindet so bei einem Zoobesuch in den Tiergehegen, während ihr Onkel Wowik sich die Zeit mit einer dunkelhäutigen und attraktiven Zigeunerin vertreibt. Und in all dem Trubel entwickelt Alka dann auch noch die Wahnvorstellung, eine Tochter Hemingways zu sein.

Klingt verwirrend? Der Originaltitel des Romans, „Zap“, für die kurze Bezeichnung der Stadt Zaporoschje stehend, beschreibt wohl etwas besser die eigentliche Handlung der Geschichte. Denn im Grunde geht es hier eher um einen Querschnitt dieser Stadt und ihrer Bewohner anhand einer Familie. Jeder Protagonist bekommt eine ganz spezifische schräge Geschichte, alles kann eine Bedeutung haben und alles ist am Ende irgendwie miteinander verbunden.

Die in der Ukraine aufgewachsene, in Leipzig lebende und auf Englisch schreibende Autorin und Lehrerin Svetlana Lavochkina hat mit ihrem Roman ein Buch geschrieben, das nicht so richtig zu greifen ist – im positiven wie im negativen Sinne. Es erheitert und verstört im gleichen Maße. Welche Seite überwiegt, wird jede Leserin und jeder Leser wohl erst auf der letzten Seite wirklich für sich entscheiden können.

  • Gebundene Ausgabe: 368 Seiten, 24 €
  • Verlag: Verlag Voland & Quist; Auflage: 1 (1. Oktober 2019)
  • Übersetzung: Diana Feuerbach
  • ISBN-13: 978-3863912420

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  1. Olaf Gütte says:

    Ja, auch wenn es vielleicht viele Fragen offen lässt, interessant klingt es auf jeden Fall, Annika. Kommt gleich mit auf meine Liste. Liebe Grüsse Olaf 🙂 ❤

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