Exil in der Heimat — ukrainisches Nachkriegstrauma in Atlantis

Der Spielfilm Atlantis (2019) von dem ukrainischen Regisseur Valentyn Vasyanovych gewinnt auf dem 76. Internationalen Filmfestival von Venedig den Hauptpreis der Sektion Orizzonti als Bester Spielfilm. Der Tag der Auszeichnung ist zufällig der, an dem ein anderer ukrainischer Filmregisseur – Oleg Sentsov – im Rahmen eines Gefangenenaustauschs aus russischer Haft entlassen wird. Der Filmtitel Atlantis lässt an Platons Atlantis-Erzählung denken. Der Film selbst – eine scharfe Reflexion über die Unmöglichkeit einer gerechten Welt, in der es den Platos Idealstaat bis dato nicht geben kann.

von Jeva Griskjane

atlantisOstukraine im Jahr 2025. Seit dem Krieg mit Russland ist ein Jahr vergangen und aus dem Land ist eine Ödnis geworden, in der ein Leben aufgrund der unzureichenden Ressourcen auf der bereits vergifteten Erde bald unmöglich wird. Die letzten Fabriken schließen. Menschen werden entlassen und in ihrer Trostlosigkeit gehen sie zugrunde. Serhii (Andriy Rymaruk) – ein ehemaliger Soldat mit posttraumatischer Belastungsstörung – versucht seinen post-Kriegsalltag zu bewältigen. Für viele Menschen scheint der Kampf ums Überleben jedoch zunehmend sinnlos zu sein. Serhiis Freund begeht Suizid, er selbst verliert kurz darauf seine Arbeit und schließt sich einer Organisation von Freiwilligen namens Schwarze Tulpe an, die sich dem Auffinden und Bergen von Kriegsermordeten widmet. Gemeinsam mit seiner Kollegin Katja (Liudmyla Bileka) und anderen Helfern fährt er durch das von Minen verseuchte Gebiet. Sie graben die Leichen aus, identifizieren sie und bringen die Überreste der Toten zu den nächstgelegenen Grabstätten, um sie mit Würde zu beerdigen. Nach einer Weile kommen Serhii und Katja sich näher und versuchen durch noch vorhandene Gefühlswärme ihrem Dasein einen überlebenswichtigen Sinn und eine Hoffnung zu geben.

„In fact, this is a real reservation for people like us.“ 

Atlantis zeigt eine wahrhaftig treffende Perspektive auf die von Widersprüchen zersplitterte Ukraine aus der nahen Zukunft, welche aber für die ukrainische Gesellschaft schon längst begonnen hat. Ostukraine in dem katastrophalen Nachkriegszustand und auf der Suche nach eigener Identität in einem ökologisch bereits verdorbenem Ort, in dem ein Überleben und weiteres Existieren unmöglich zu sein scheint.

Obwohl Vasyanovych die Handlung in die folgende Jahre verlegt, ist das heikles Kriegsthema für die Ukraine enorm aktuell. Bis heute bleibt der fortlaufende Krieg mit Russland in der Ukraine für die Außenwelt undefiniert. Für die (westliche) Öffentlichkeit wird dieser oft in einem abgeschwächten Ton als „Krise“ bezeichnet. In den Medien werden Fakten und Ermittlungen über Kriegsfolgen vertuscht, manipuliert oder verleugnet. Dieser Film, inspiriert von wahren Begebenheiten in dem Land, möchte die Welt daran erinnern, dass der Krieg in der Ukraine noch nicht zu Ende ist, so Vasyanovych in einem Interview. Der Regisseur greift dieses Problem der Unsichtbarkeit auf und setzt mit diesem Film ein direktes Zeichen für Wahrnehmbarkeit des ukrainischen Raumes und der ukrainischen Gesellschaft, als von der externen Machtpotenz beschädigtes Erzeugnis. Welche Möglichkeiten und Alternativen gibt es für einen Menschen, ja für die gesamte Gesellschaft nach einer langjährigen gegenseitigen Vernichtung? Wie kann das zerrüttete Leben wieder normal werden?

01Die erste und eine der Schlussszenen sind in infrarot aufgenommen. Glühende Farben zeichnen einen noch lebenden Menschen, der in ein frischausgegrabenes Erdloch geworfen und anschließend ermordet wird. Der Körper strahlt noch Wärme aus, es wird aber immer weniger, bis der Körper mit der Erde zugeschaufelt wird und komplett verschwindet. In einer der finalen Szenen sind es zwei Körper, die sich in den Armen halten. In ihnen glüht die Wärme,  sie haben die Schrecken des Krieges überlebt und suchen sich in dem Letzten zu retten, dass sie noch besitzen – ihre Menschlichkeit.

Der Film transportiert eine lähmende Stille dieser übrig gebliebenen Welt, das Erstarren von natürlichen Vorgängen in Menschen und Dingen nach einem totalen Zusammenbruch. Vasyanovych schafft in seinem Film ein Universum von gewaltigen Bildern und Stimmungen, das auf sehr offene, aber gleichzeitig diskrete Art und Weise die Dramatik der Ereignisse zeichnet – ohne jegliche Übertreibung, Pathos oder Banalität. Alles ist perfekt dosiert, die Inszenierung wirkt durch das überzeugende Schauspiel nahezu real. Atlantis gelingt es auf allen Ebenen, authentisch und sicher in seiner Absicht kompromisslos zu bleiben – ein mutiges, intelligentes und filmisch meisterhaftes Werk.

 

 

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