„In Russland ist eine regelrechte Gefängniskultur entstanden.“ – Interview mit Dmitry Glukhovsky

Dmitry Glukhovsky ist einer der erfolgreichsten Autoren Russlands, dessen Romane weltweit zu Bestsellern wurden. Nach seiner postapokalyptischen „Metro“-Reihe, dem dystopischen „Future“ oder dem fantastischen „Sumerki“ wurde sein neuester Titel „Text“ nun in deutscher Übersetzung im Europa Verlag veröffentlicht. Mit „Text“ legt Glukhovsky einen politischen Thriller als Abrechnung mit Putins Russland vor. Wir durften den Autor im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin zu seinem neuen Buch, seiner Einstellung zu Russland und seinen nächsten Projekten interviewen.

© Jörg Schulz

Woher erhalten Sie Ihre Inspiration?

Das hängt von der Geschichte ab. Für „Text“ habe ich zum Beispiel vor sieben Jahren einen Regisseur getroffen, der mir als Ausgangshandlung für ein Drehbuch vorschlug, dass ein Mann das Smartphone eines anderen findet. Meine Geschichte fing nun damit an, dass dieser Mann einen Polizisten umbringt, als Rache dafür, dass dieser ihm bei einer Kontrolle Kokain in die Tasche steckte und ihn verhaftete. Nach der Rückkehr aus dem Gefängnis und dem Mord stiehlt er das Handy des Opfers und übernimmt dessen digitales Leben. Das war die Idee, die mir sofort in den Kopf kam, allerdings war sie für den Regisseur zu hart – zu politisch, zu kritisch gegenüber der Polizei. Ihm war es zu viel, obwohl es genau die heutige Situation in Russland widerspiegelt. Als ich ihn 5 Jahre später fragte, ob ich ein Buch daraus machen könne, stimmte er mir zu.

Im Grunde kam die Inspiration für „Text“ aus der Idee, dass eine Person das Leben einer anderen durch das Handy übernimmt. Was mich hier darüber hinaus aber am meisten prägt, ist die fehlende politische Freiheit in Russland. Es gibt zwar die persönliche Freiheit, wir können beispielsweise reisen wohin wir wollen, arbeiten, wo wir wollen – hier sind wir frei, aber politisch sind wir es nicht. Dazu gibt es ein Kastensystem mit einer Trennung zwischen den „einfachen“ Menschen und denen, die Macht haben. Sie sind unantastbar und werden nicht für mögliche Verbrechen bestraft, da sie über dem Gesetz stehen. Die Mehrheit der Russen hat keine Garantie auf die einfachsten Menschenrechte.

Was für mich besonders spannend war, sind die Leute der oberen Schicht, und dazu zähle ich auch Putin, die durch diese Unantastbarkeit ihre moralischen Werte hinten anstellen und der Bevölkerung vorgeben, es gäbe immer nur schwarz oder weiß, gut oder schlecht. Sie lügen, stehlen, fallen in andere Länder ein … Sie wollen frei von Gesetzen sein und glauben an ein System der Stärkeren.
In „Text“ schreibe ich über eine Figur, die das Leben eines anderen durch das Handy stiehlt, seinen digitalen Fingerabdruck. Unsere Smartphones offenbaren so viel mehr, als wir jemals unseren engsten Bezugspersonen anvertrauen würden, sie beinhalten Texte, Fotos, Videos, sämtliche Emotionen und Erinnerungen, die wir erhalten wollen. Alles ist da, das Gute und das Schlechte. Wenn dieses also nun in die Hände einer anderen Person fällt, gibt es alle Möglichkeiten, uns zu kopieren und unsere Geheimnisse öffentlich zu machen. Im Buch gelangt dadurch eine Person der unteren Schicht in die obere, zumindest digital. Eine Möglichkeit, die sich sicher sonst nie ergeben hätte.

Ist auch Ihr Leben auf Ihrem Smartphone gespeichert?

Auf jeden Fall! Deswegen habe ich mein Leben zweigeteilt: in mein privates Handy und mein Arbeitshandy. Sollte eines davon also gestohlen werden, bekommen die Diebe immerhin nur mein halbes Leben.

Haben Sie für „Text“ auch mit Drogendealern, -opfern oder Polizisten gesprochen?

Ich sprach mit drei ehemaligen Häftlingen und zwei Polizisten, die das Buch im Vorfeld gelesen haben. Auch ein Beamter der Drogenvollzugsbehörde hat es anonym geprüft. All die Informationen über Korruption, den Verkauf von konfiszierten Drogen durch die Polizei, die Arbeit innerhalb der Polizei, die Unterstützung durch den FSB, dem Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, sind wahr. Die Authentizität der Geschichte war mir sehr wichtig. Die Handlung ist zwar fiktiv, sie könnte aber jederzeit so passieren.

Glauben Sie, es ist für ehemalige Häftlinge möglich, sich nach Verbüßung ihrer Strafe gut in die Gesellschaft zu reintegrieren?

Ja und nein. Es ist ein Stempel, den man immer tragen wird. Es gibt in Russland sehr viele Menschen, die schon einmal im Gefängnis waren, rund 15 bis 20% der Gesamtbevölkerung. Dadurch ist eine regelrechte Gefängniskultur entstanden, die einen großen Einfluss auf die Gesellschaft und Politik hat. Die Gefängnisse in Russland sind eine Art Parallelgesellschaft, mit ihren eigenen Werten, eigenen Mythen und einer eigenen Popkultur. Russland ist bekannt für seine Unberechenbarkeit, frei nach dem Motto, du kannst immer zum Bettler werden und/oder im Gefängnis landen. Kritischen Journalisten oder erfolgreichen Geschäftsmännern kann es sehr schnell passieren, dass sie zur Zielscheibe werden und aufgrund falscher Verdächtigungen verhaftet werden. Ein neues russisches Gesetz führt dazu, dass Drogendelikte besonders hart bestraft werden und so gibt es viele junge Leute, die eine Strafe verbüßen, auch für den kleinsten Drogenkonsum. Und dass auch nur, weil Polizisten ihre Erfolge hochschrauben müssen. Da es nun so viele Personen gibt, die täglich riskieren, verhaftet zu werden, ist diese Gefängniskultur allgegenwärtig. Auf YouTube gibt es beispielsweise sehr häufig angeklickte Videos, die erklären, wie man sich im Gefängnis verhalten sollte, um bestehen zu können. Die Haft verändert dich und deine Sicht auf das Leben und viele macht sie stärker. Ob man die Häftlinge reintegrieren kann? Man kann definitiv in die Politik gehen und seine dubiose Vergangenheit als Einfluss nutzen. Denn über die letzten 20 Jahre ist das organisierte Verbrechen innerhalb der Politik immer stärker geworden. Hier gibt es viele Verbindungen zu dem FSB, zu den Ministerien oder Polizeistationen, die beginnen, wie Kriminelle zu denken und das Land lenken.

Sie leben auch in Barcelona. Ist das eine Art Flucht vor Russland, speziell Moskau?

Nein, ganz und gar nicht. Ich pendle zwischen Moskau, Barcelona und Deutschland. Mir geht es hier einfach um Mobilität und ich würde mich als enthusiastischen Kosmopoliten bezeichnen. Es ist wunderbar, dass die Grenzen offen sind. Mal abgesehen von denen, die wir uns selber setzen. Aber natürlich verbringe ich viel Zeit in meiner Heimat. Eine Flucht nach Spanien wäre wohl am ehesten die vor den kalten Temperaturen in Russland.

Wenn Sie Moskau in drei Wörtern beschreiben müssten, welche wären es?

Das wären spontan strahlend, Anstrengung und das Vorgeben von etwas (shining, struggle, pretending). Und ein viertes: Babylon, weil sich hier auch so viele Kulturen und Sprachen vermischen.

Sie wurden durch Ihre Metro-Bücher bekannt, in denen die Menschen nach einem Atomkrieg in den U-Bahn-Schächten und -Stationen Moskaus leben. Denken Sie noch manchmal an die Figuren und Situationen, wenn Sie die Metro nutzen?

Vielleicht nur selten an ein paar wenigen Stationen, denn sonst wäre das viel zu viel. Ich habe den ersten Metro-Band vor 20 Jahren geschrieben und um ehrlich zu sein, werde ich ein wenig müde bei diesem Thema. Natürlich wird es mich immer begleiten und nie richtig zu Ende sein. Im nächsten Jahr wird es zum Beispiel ein neues Videospiel geben. Allerdings arbeite ich an vielen anderen Dingen und „Text“ ist nur ein Teil davon. Ich schreibe derzeit beispielsweise an Theaterstücken und Drehbüchern. Dabei versuche ich auch, mich von den großen, bombastischen Settings abzuwenden, denn es ist für mich  viel anspruchsvoller und komplizierter, etwas Realistisches und Intimes zu schreiben, als eine komplette apokalyptische Welt zu erfinden.

Sehen Sie Unterschiede im „westlichen“ und im russischen Science-Fiction-Genre?

Es gab größere Unterschiede zwischen westlicher und sowjetischer Science Fiction. Sowjetische Science-Fiction war nicht so düster und berief sich mehr auf die sozialen Probleme im System, die natürlich nicht offen ausgesprochen werden konnten und in Hinweisen versteckt wurden. Das Genre war nicht unbedingt dazu gedacht, seine Leserinnen und Leser zu unterhalten. Im Westen hingegen konnte man schreiben, was man wollte, mit Ausnahme der Legitimation des Nationalsozialismus.
In der freien Marktwirtschaft fällt der Aspekt dieser versteckten Kritik an der Politik weg, denn sie wird nun tagtäglich offen ausgetragen. Science-Fiction ist zum puren Entertainment geworden, auch in Russland. Der Unterschied heute ist, dass das Genre Unterhaltung für die bietet, die von der Realität enttäuscht oder gelangweilt sind oder sich einfach einer anderen Lebenswelt zuwenden wollen, auch als Flucht. In Russland war das erfolgreichste Subgenre der Science-Fiction-Literatur des letzten Jahrzehnts beispielsweise nicht das Postapokalyptische, das gab es in den 90ern, als auch ich „Metro“ schrieb. Nein, in den letzten Jahren waren es besonders Zeitreiseromane, die in Russland Erfolg hatten. Hier geht es immer darum, Russland oder die Sowjetunion auf eine eher naive Weise wieder groß und stark zu machen.

Wie viel von Ihnen steckt in Ihren Figuren?

Sehr viel, aber natürlich nicht alles. Ich verteile immer etwas von mir auf die Charaktere oder übernehme Eigenschaften, die ich in meinem Umfeld sehe. Wenn man eine Geschichte ernsthaft schreiben will, sollten die Figuren auch eine Quintessenz von dir tragen. In meinem Roman „Future“ gibt es zum Beispiel einen sadistischen Psychopathen und ich denke, dass jeder von uns auch davon etwas in sich trägt. Als Autor muss man manchmal sein inneres Tier freilassen, um die Geschichte mit Leben zu füllen. Es wäre interessant, demnächst auch mal eine Frau zur Hauptfigur zu machen, um zu sehen, was passiert.

Arbeiten Sie bereits an einem nächsten Roman?

Ich habe gerade ein Theaterstück beendet und überlege nun, welche Geschichte ich zu Papier bringen soll. Ich habe drei Ideen und muss sehen, welche davon es als nächstes wird.

Gibt es unter Ihren bisherigen Romanen und Projekten ein Favorit?

Normalerweise ist immer das letzte Projekt mein Favorit, da ich meine ganze Leidenschaft in den Schreibprozess lege. Vielleicht war ich mit 17 beim Schreiben des ersten Metro-Romans thematisch nicht ausreichend informiert, aber ich habe mein Bestes gegeben und ich denke, dass es darum heute noch so beliebt ist. Generell ist jedes meiner Bücher bei einer anderen Lesergruppe angekommen. „Future“ beispielsweise wurde trotz seiner Brutalität sehr gerne von Frauen gelesen. Mich freut diese breite Leserschaft sehr, denn je älter ich werde, desto mehr versuche ich mich literarisch weiterzuentwickeln.

Wer sind Ihre persönlichen Lieblingsautorinnen und -autoren?

Das ist eine schwierige Frage. Als Jugendlicher ist es oftmals leicht, diese schnell zu beantworten, da man sich dadurch definiert. Doch im Laufe der Jahre wird es immer komplizierter, genau das zu finden, was einen aktuell beschäftigt und prägt. Die Favoriten ändern sich dann schnell. Manchmal kommt es auch einfach auf die Stimmung drauf an. Es gibt dann Romane, die zu einer bestimmten Jahreszeit passen oder welche, die dich besonders motivieren. Gleichzeitig gibt es Autoren, die man erst später nach wiederholtem Lesen für sich entdeckt. Im Moment beschäftige ich mich viel mit sowjetischen Autoren aus den 20ern wie Isaac Babel oder Warlam Schalamow. Außerdem lese ich auch viel zeitgenössische Literatur von Donna Tartt bis Hanya Yanagihara und die Gewinner des Pulitzerpreises.

Dmitry Glukhovsky, wir danken für das Gespräch!

Das Interview führte Annika und wird auch in der Dezemberausgabe des Ost Journals veröffentlicht.

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