Georgi Gospodinov – Lapidarium (eta Verlag, 2017)
Den eta Verlag mit dem programmatischen Schwerpunkt „Bulgarische Literatur“ kennen die Leser*innen von Read Ost bereits. Mit seiner Gründerin, Petya Lund, haben wir letztes Jahr ein Interview geführt.
Georgi Gospodinov ist eine wichtige Stimme der bulgarischen Gegenwartsliteratur. Er schreibt Lyrik und Prosa und debütierte mit dem Gedichtband „Лапидариум“ (Verlag Modus Stojanov) 1992 im postsozialistischen Bulgarien. In einer Wendezeit, die eine neue Richtung der bulgarischen Literatur, den Anfang der bulgarischen Postmoderne darstellte. Die Gedichte wurden aus dem Bulgarischen von Henrike Schmidt ins Deutsche übertragen und werden von den künstlerischen Arbeiten von Gaby Bergmann begleitet, die sich als eine visuelle Interpretation der Gedichte darbietet.
In knapp 50, hauptsächlich in einer kurzen Form gehaltenen Gedichten, beschäftigt sich Gospodinov mit großen Themen: Gott, Liebe, Natur, Leben und Tod. Die Gedichte handeln auf den ersten Blick von banalen Dingen des Alltagslebens, eröffnen aber zugleich eine tiefe Ebene, auf der sich der Autor mit den philosophischen Fragen, mit Kosmos u. Ä. auseinandersetzen kann: „Es ist bewiesen/ dass sich das Weltall ausdehnt/ Folglich/ entfernen wir uns zusammen/ voneinander.“
Die Gedichte werden in dieser Jubiläumsausgabe zweisprachig abgedruckt. Der ständige Wechsel des lateinischen und kyrillischen Alphabets verleiht dem Buch noch mehr Dynamik. Wichtig sind für den Autor Bilder und Metaphern wie Insekten, Steine oder auch der Wechsel von Jahreszeiten und Naturphänomenen: Herbst: „Meine Mutter/ kocht den Sommer/ hinterm Block/ in Einmachgläser ein.“
Steine und Worte verschmelzen bei Gospodinov ineinander zu einem Ganzen, Kosmisches und Irdisches ebenfalls. Die Suche nach Gott wird hier in den kleinen Dingen vollzogen, die aber keinesfalls Ernst genommen werden darf. „Worüber wachst Du Wächter der Friedhöfe“ – fragt Gospodinov in einem Gedicht. Mit dem Titel „Lapidarium“ spielt der Autor auf den lapidaren Stil (kurz, ausdrucksstark und klar) an. Lapidarium ist eine Sammlung von Steintafeln mit Inschriften, die von den Lesern in dieser wunderbaren Ausgabe entdeckt werden können.
Weitere Werke von Gospodinov sind beim Literaturverlag Droschl Graz zu entdecken.
Moyshe Kulbak – Childe Harold aus Disna. Gedichte über Berlin (edition.fotoTAPETA)
Mit Moyshe Kulbak sollten Read Ost Leser*innen auch bereits vertraut sein, allerdings bis jetzt nur mit seiner Prosa. Nun hat die edition.fotoTAPETA Kulbaks Berlingedichte in deutscher Sprache herausgebracht. Kulbak schreibt hier im Genre des „Bildungsgedichts“ die Tradition von Heinrich Heine (Childe Harold) oder George Byron (Childe Harlod’s Pilgrimage) fort. Das Jiddische und die in dieser Sprache verfassten Literatur sollen fernab von Vilnius ebenfalls wahrgenommen werden, so der Anspruch des Autors. Der Gedichtzyklus erschien erst 1933, obwohl sein Aufenthalt in Berlin zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre zurücklag. „Eine Bahn. Ein Fenster. Ein Gesicht, erhellt./ Mit einer Pfeife zwischen steifen Lippen/ macht sich ein junger Mann auf in die Welt/ mit nichts am Leib, außer ganzen Rippen./ In der Tasche: ein Bündel wilder Lieder,/ ein Päckchen Zigaretten und ein Hemd.“
In Form eines Prosagedichts folgen wir dem Flaneur Childe Harold durch die Großstadt. Mal am Zoo, mal am Savignyplatz, in Wedding oder Neukölln oder in den Jazzclubs studiert er die Umgebung, die Menschen, den Rhythmus von Berlin: „Ich bin einem Luftballon ähnlich/ vom langen Faden abgerissen.“ Und man staunt immer wieder darüber, wie zeitgenössisch seine Worte und Beobachtungen immer noch sind. Noch vor der Machtübernahme von Hitler, warnt er schon vor den dunklen Zeiten, die kommen werden: „Im Staat reift heran eine junge Macht,/ die einen Riss bewirken wird in seiner Form,/ wie ein weißer Austernfischer in einem Sturm/ schießt sie hervor, und schreit, und lacht…“ Oder ist hier doch vielleicht die Arbeiterklasse gemeint, die sich in dieser Zeit für Proteste organisierte? Kulbak ist mal melancholisch, wenn er über die „Vögelchen von der Tauentzienstraße“ spricht, dann wieder ironisch, wenn er über das Dasein des Europäers herzieht, dabei aber stets klug. Er ist ein wunderbarer Chronist der Zeit. Das Nachwort der Übersetzerin Sophie Lichtenstein, in dem der Kontext der Entstehung der Gedichte erläutert wird, macht die Leser*innen mir dem Leben und Wirken dieses wichtigen Autors der jiddischen Literatur noch vertrauter.
Milena Nikolova – SchrödingErs Katze. Ein subatomares Liebesgedicht in Echtzeit (eta Verlag)
Sicherlich ist dieses Buch keine gewöhnliche Lektüre. Und die Katzenliebhaber*innen werden auch nicht sonderlich glücklich mit der Protagonistin dieses Langgedichts von Berliner Autorin bulgarischer Herkunft Milena Nikolova. Die lyrische Erzählung ist 2015 in bulgarischer Sprache erschienen und dieses Jahr folgte nun die deutsche Übersetzung.
SchrödingERs Katze, die Hauptfigur des Gedichts, ist gespalten zwischen Leben und Tod, zwischen hier und dort und zwischen den diversen Identitäten. Sie philosophiert laut über die großen Themen, sieht sich im Zustand des „Dazwischen-Seins“, ist weder weiblich noch männlich, weder dick noch dünn und hat keine Farbe. Ihr Philosophieren nimmt teilweise quere Richtungen: „Meine Gedanken TANZEN, TANZEN, TANZEN/ zur Choreographie des Spiegelstadiums von Lacan./ Sie kreisen um meine eigene/ physiologische Träumere – /”
Die Illustrationen, die die Experimentierkatze des österreichischen Physikers Erwin Schrödinger in diversen Formen, Farben und Stilen zur Geltung kommen lassen, akzentuieren die psychische Spaltung der Figur noch mehr: „A Cat, Chat, Katze, Gatto, Kat, Кот, Котка, Chatz usw./ Weder weiß noch schwarz – mein Dazwischen ist … grau./ Eine schattige, verdächtige graue Eminenz, […].“ Eine ungewöhnliche Lektüre, die sicherlich ihren Weg zu den Leser*innen findet.
von Irine
von Irine