Der Verlag Voland & Quist hat mit der Reihe „Sonar“ bereits einige spannende AutorInnen aus Mittelosteuropa der deutschsprachigen Leserschaft präsentiert. Darunter ist zum Beispiel der weißrussische Autor Viktor Martinowitsch, der hierzulande mit seinen wunderbaren Romanen „Paranoia“ und „Mova“ bekannt geworden ist. Ziemowit Szczerek führt nun mit seinem Buch „Mordor kommt und frisst uns auf“ diesen Schwerpunkt des Verlags auf hohem literarischen Niveau weiter.
Ähnlich wie der Ich-Erzähler des Romans Lukasz Ponczynski reiste Szczerek jahrelang durch die Ukraine und weitere osteuropäische Länder herum und berichtete für unterschiedliche polnische Zeitungen von seinen Eindrücken. Die Erzählung setzt beim Passieren der polnisch-ukrainischen Grenze an und schafft bereits auf den ersten Seiten des Romans das Bild des sogenannten Ostens, das stark aus dem bewussten Aufgreifen von klischeehaften Perspektiven schöpft. Zum ersten Mal eröffnet sich hier dem Ich-Erzähler der angeblich unbekannte postsowjetische Raum. Alles ist hier fehl am Platz und zeugt von der Unkultiviertheit und von dem immer noch andauernden Chaos nach dem Zerfall des kommunistischen Systems:
„Eine Welt, die ich mir bis dahin nur hatte ausmalen können, hatte Gestalt angenommen, und was für eine! Ein paar Typen spazierten in karierten Hausschlappen herum. Der Jesus auf einer Kirchenwand war dunkel wie ein Kaukasier. Von den Blechkuppeln stach einem die Sonne in die Augen.“
Die erste Stadt, die der Erzähler mit seinem Begleiter Hawran besucht, ist Lwiw. Geschickt spielt der Autor hier mit der Idee der Zugehörigkeit Lwiws zu Polen. Hawran kennt sich in der Ukraine bestens aus und macht seinen Freund auf den berühmten Vigor-Balsam aufmerksam. Berauscht von diesem Zaubertrank, der aus zwölf ukrainischen Kräutern zubereitet wird, besuchen sie etliche Orte während ihrer Reise, die eher durch Zufälle, als von einem Plan bestimmt werden. Sie laufen auf die Spuren von Bruno Schulz durch Drohobytsch, besuchen die Städte Frankiwsk und Odessa und machen Pausen auf leeren und heruntergekommenen Bahnhöfen. Sie fahren mit alten Marschrutkas, die mit deutschen Werbeslogans versehen sind oder mit alten sowjetischen Ladas, die nur durch ein Wunder noch funktionieren können. Die monotone Landschaft mit Ruinen wird nur durch die einzelnen Begegnungen mit Menschen gebrochen, die aus der Masse herausfallen. Auf der Reise treffen sie Menschen, die sich durch ihre radikalen politischen Positionen im Gedächtnis bleiben. Wie z. B. den westukrainer Taras, der streng an die Dichotomie von West und Ost hält und den postsowjetischen Raum als gleich verdorben betrachtet – „Taras war ein westukrainischer Separatist. Ein galizischer.“ Galizien wird im Roman überhaupt als der einzige zivilisierte Raum im gesamten Osten stilisiert.
Im Sound des Gonzojournalismus beschreiben, der Autor, wie auch die Hauptfigur, die Ukraine als ein Land der Anarchie. Gonzo im Sinne der totalen Übertreibung, der maßlosen Verfälschung der Ereignisse, Überzeichnung der Figuren und der klischeehaften Darstellung der Realität – „Gonzo heißt Schnaps, Kippen, Drogen und Weiber.“ Der Erzähler arbeitet ebenfalls für die Presse und missbraucht kreativ die Gegebenheit, dass man in Polen gerne Negatives über das Nachbarland Ukraine liest. Seine Fakereportagen werden immer populärer und zugleich radikaler, da die Polen sich immer besser fühlen, wenn sie erfahren, dass es den Nachbarn zugleich viel schlechter geht, so der Erzähler. Nicht zufällig beschreibt er die Begegnungen mit den polnischen Reisegruppen, die überfüllt durch die Schadenfreude wieder in die Heimat zurückkehren – eine therapeutische Maßnahme eben.
Szczerek ist ein Roman gelungen, der den Lesern mit einem heiteren Ton die aktuellen Problematiken des „Ostens“ vor Augen führt. Durch das bewusste Aufgreifen von Vorurteilen und Ressentiments, die über den postsowjetischen Raum im Westen herrschen, prangert er zugleich die Hierarchie innerhalb des Ostens an, die hier exemplarisch durch die Gegenüberstellung von Polen und Ukraine funktioniert. Der Roman begeistert durch seinen klugen Humor und durch die Dynamik des Erzählens, die bis zum Schluss nicht an seinem einzigartigen Rhythmus verliert.
von Irine