Ein albanisches Schlüsselwerk: „Schlüsselmädchen“ von Lindita Arapi

„Lodjas Mutter war eine Gefangene der familiären Inquisition. Darauf zu hoffen, dass sie sich jemals befreien würde, war aussichtslos. Sie wollte es ja selbst so. Es lag ihr im Blut.“
c_hq_schluesselmaedchen.jpgLindita Arapis „Schlüsselmädchen“ (Dittrich Verlag) behandelt die Geschichte der jungen Lodja, die das Treiben ihrer albanischen Heimatstadt als Kind nur durch ein Fenster beobachten und nie am Gesellschaftsleben teilhaben konnte. Als Familie mit einer „schwarzen Biografie“ werden Lodja und ihre Eltern von ihrer Nachbarschaft ausgegrenzt. Erst als junge Studentin im Ausland kehrt Lodja zurück, um die Geheimnisse der Vergangenheit ihrer Familie, die für ihre Ausgrenzung verantwortlich sind, zu erfahren und trifft auf die Geschichte ihres Großvaters, der sich 1952 den neuen Machthabern entgegen stellte und von ihnen gelyncht wurde.

Arapi gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen Albaniens und bekam für ihr Debüt „Schlüsselmädchen“ den albanischen Preis KULT für das Buch des Jahres. Sie lebt heute in Bonn und kann die Vergangenheit ihres Heimatlandes somit, ähnlich wie ihre Hauptfigur Lodja, aus der Ferne reflektieren. Wie autobiografisch der Roman ist, wird zwar nicht verraten, dass in Lodja jedoch die Geschichte vieler albanischer Familien steckt, kann man sicher nicht verleumden.

„Man hat mir früh die Zunge gestutzt. Heute weiß ich, dass es nicht nur die Zunge war, sondern auch das Gedächtnis.“

Es sind die albanischen Frauen, die „Schlüsselmädchen“ dominieren und prägen. Die Leser begleiten Lodja hier in verschiedenen Zeitebenen und folgen ihrer Entwicklung so vom unschuldigen Kind bis hin zu einer unabhängigen Frau, die sich endlich ihrer Vergangenheit stellt. Auf der anderen Seite ist ihre Mutter ein Charakter, der sich verschließt und mit der Ausgrenzung lebt. Als „Unantastbare“ leben beide in einer Nebengesellschaft, dessen Rolle von ihren Mitmenschen dominiert wird. Lodjas Aufwachsen wird so zu einem Spießrutenlauf, dessen Ursachen sie nicht begreifen kann. Als Studentin schafft sie es zwar, aus dem Kreislauf ihrer Vergangenheit auszubrechen, dennoch wird sie die Geschichte ihrer Heimat und die ihrer Familie nie richtig loslassen können.

„Aber wenn die Nachfahren der Ermordeten nicht verzeihen konnten und auf Rache sannen, anstatt den Blick aus Leben zu richten, wenn sie ihrer verlorenen Jugend nachtrauerten und sich vergiften ließen von der Enttäuschung, dann erstickte dieses Land an einem tödlichen Atmen.“

Lodjas Geschichte ist nicht nur ein Einzelschicksal, sondern die Geschichte ganz Albaniens, in der sich die Vergangenheit und die daraus entstandenen Konflikte widerspiegeln. Auf der Suche nach den Geheimnissen ihrer Familie wird Lodja mit einer Mauer aus Schweigen konfrontiert, der sie sich mutig entgegen stellt.
„Schlüsselmädchen“ ist damit ein wichtiges Werk zur Aufarbeitung der albanischen Geschichte und Verständigung zwischen Familien, die einst Feinde waren und nun an den Vorurteilen hängen bleiben. Gleichzeitig ist der Roman auch ein Appell, sich endlich zu öffnen. Mit einem ruhigen und bedachten Schreibstil schafft Arapi es auf den nur knapp 200 Seiten, einen komplexen Kosmos einzubinden, der sich trotz seiner Größe auf nur wenige Figuren beschränkt.

Die Originalausgabe „Vajzat me celes ne qafe“ ist 2010 bei Ideart erschienen.

Gebundene Ausgabe: 205 Seiten, 19,80 € (D)
Verlag: Dittrich, Berlin; Auflage: 1 (5. September 2012)
ISBN-13: 978-3937717852

Annika

 

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