Seitdem der Insel-Verlag 1991 den Roman „Muzal: ein georgischer Roman“ des deutschsprachigen Autors mit georgischen Wurzeln Giwi Margwelaschwili veröffentlichte sind fast dreißig Jahre vergangen. Heute ist der Autor beim Berliner Verbrecher Verlag zu Hause und hat hier dieses Jahr den Roman „Die Medea von Kolchis in Kolchos“ herausgebracht. Margwelaschwili wurde 1927 als Sohn georgischer Emigranten in Berlin geboren. Während sein Vater nach dem Zweiten Weltkrieg vom sowjetischen Geheimdienst hingerichtet wurde, musste der Autor selbst einige Jahre im Sowjetischen Speziallager Sachsenhausen und in unterschiedlichen Zwischenlagern verbringen.
Trotz seiner überdurchschnittlichen Produktivität gelangten Margwelaschwilis Bücher bisher weder in Georgien noch in Deutschland zu einer breiten Leserschaft. Gründe dafür können unterschiedlich sein – einerseits ist es die besondere Spezifik seiner Prosa, die durch die komplexe Erzählweise und durch verwobene Handlungsmuster erreicht wird, andererseits wiederum baut er in seinen Geschichten bizarre thematische Wendungen und skurrile Figurenkonstellationen ein. Im Falle der Rezeption seines Werkes in Georgien kommen natürlich noch die übersetzungstechnischen Fragen hinzu. Nicht zufällig handelt eben sein aktueller Roman von der Problematik der ausbleibenden Leserschaft. Das Aussterben von Büchern und dessen Figuren wird im Roman durch eine besondere Erzähltechnik thematisiert. Die Frage, ob der Autor damit zurückblickend auf sein ganzes literarische Schaffen die rezeptionskritischen Fragen neu aufwerfen will, sei hier dahingestellt.
Der Autor Wakusch beauftragt seinen künstlichen Leser, den Ich-Erzähler, seine Geschichten „am Leben zu erhalten, am Lese-Leben also, denn in Geschichten und Gedichten leben alle Wesen nur, wenn sie gelesen werden, nur als Lese-Lebewesen.“ Die Geschichte spielt an der kaukasischen Schwarzmeerküste während der Sowjetzeit. Eine riesige Medea-Skulptur bewacht den Strand von Pitzunda. Der Polyp Polymat – der fliegende Staubsauger – reinigt wiederum die Luft vom ideenstofflichen Staub. Der teilweise überzeichnet anmutende Plot kann für viele Leser zunächst abschreckend wirken, aber nach den wenigen Seiten gewinnt man immer mehr den Überblick über die Handlungslinien.
In der fiktiven Welt werden die Bücher von Wakusch schon seit geraumer Zeit immer weniger von den Lesern aufgeschlagen. Für die Leser, die mit den Texten von Margwelaschwili vertraut sind, ist die Figur Wakusch bereits bekannt. In diesem Roman hat man es gleichzeitig mit zwei Wakusch-Gestalten zu tun – die reale Person Wakusch, der als Autor des Textes auftritt, und der lesestoffliche Wakusch als Buchfigur. Wie in anderen Texten von Margwelaschwili wird hier ebenfalls viel über die narrativen Möglichkeiten der Literatur philosophiert, die dem Autor eine unendliche Tiefe zum literarischen Experimentieren bieten können. Der Ich-Erzähler teilt uns an einer Stelle von seiner wichtigen Erkenntnis mit:
„So erfuhr ich die Wahrheit meines Seins und überhaupt allen Seins in den Wakuscherzählungen. Daß es nämlich ein textweltliches und text- oder eben buchweltpersönliches Sein ist, daß wir hier alle Lese-Lebewesen sind, Wesen also, die nur von ihrem vorstellenden Gelesenwerden durch ihre Leser leben.“
Zu diesem „erzähltheoretischen und thematischen Mischmasch“ kommt noch die Figur von Medea hinzu, die in der Sowjetunion lebt. Zu ihr liefert der Roman aber eine nicht minder kreative Antwort: Sowohl die reale historische Figur von Medea, als auch die Chefideologen der Sowjetunion – Lenin und Stalin: die „falsi apostoli“ des Kommunismus – haben sehr viele Menschen auf den Gewissen. Und warum soll die Figur von Medea den gleichnamigen Roman von Christa Wolf lesen? Vielleicht deshalb, um die mythische Geschichte von dem Mord an ihren Kindern zu korrigieren. Erzähltheoretisch würde dies auf der erzähltechnischen Ebene folgend aussehen:
„Nur darum kann diese Medea hier beruhigt sein: in ihrem standbildweltlichen Lebensmoment kann ihren Kindern durch die Korinther nichts geschehen. Aber ist die hier nicht ein besonderer Fall, steht sie nicht als Standbild im Lesestoff einer Wakuschgeschichte und muß der Standbildweltstoff aus dem sie gemacht ist, nicht in erster Linie eine lesekörperstofflicher sein?“
Die zu kritisch lesenden Leser seien an dieser Stelle schon einmal vorgewarnt. Wir finden aber, dass jenseits des auf den ersten Blick überfordernd wirkenden Plots der Roman viele kleine Perlen, um in Margwelschwilis Worten zu sprechen, im „Lesekörperstoff“ versteckt hält. Mit seiner besonders spielerisch konstruierten Sprache, in der der Autor mit Wortwiederholungen gekonnt jongliert und aus dem Höhepunkt seiner Kreativität die Wortverbindungen, wie diese, schöpft, beeindruckt uns der Roman ganz gewiss:
„(…) daß aller Lesekörperstoff unserer Text- oder Buchwelt, selbst der am realistischsten aufgemachte, ein irreales Phantasma ist und der Irrealismus deshalb als die primäre Seinsverfassung gewertet werden muß, nach der wir hier alle gelesen werdend leben.“
von Irine
Giwi Margwelaschwili: Die Medea von Kolchis in Kolchos, Berlin: Verbrecher Verlag, 2016.
Weitere Information zum Autor und zu seinen Büchern:
http://www.giwi-margwelaschwili.de/index.html
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