Die Read-Ost Sommerlektüre 2020

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(c) Sophia Bahl

Bisweilen mag es uns so vorkommen, als sei der Urlaub während Corona mit einem krankmachenden Informationsgewirr überschattet, das jeden kreativen Keim erstickt. An jeder Ecke der Gesellschaft wird über die Wahrheit, Richtigkeit und Bedeutungshoheit gestritten und Falschinformation und Unsicherheit sind unsere täglichen Begleiter geworden. Lesen belletristischer Texte ist unserer Meinung nach die bevorzugte Rettungsmaßnahme. Bücher entführen uns in fremde und auch nahe Welten, in denen wir über die Schicksale andere viel lernen können und auch über das von uns selbst, so wir es denn zulassen. An dieser Stelle wird gerne Giovanni Boccaccios Decamerone herbeizitiert, in dem während der Pest sieben Frauen und drei Männer vor der Pandemie aus Florenz in ein Landhaus fliehen und sich durch das gegenseitige Erzählen von Geschichten das Leben erträglicher machen. Und es stimmt, Geschichten können uns Halt geben und sind eine Möglichkeit, sich in geistiger Flexibilität zu üben und etwas Licht in das überschattete Gewirr zu bringen. Der diesjährige Sommer mit seiner aktuellen Launigkeit lädt uns dazu ein, neben all den interessanten Neuerscheinungen auch mal wieder Klassiker in die Hand zu nehmen. Ob am Strand, auf der Berghütte, im Park, in der Bahn, im Stehen, im Liegen – gelesen werden kann überall, und gelesen werden sollte in jeder freien Minute. Wir von Read-Ost haben in unseren Bücherregalen gekramt und einige jedenfalls von außen verstaubte Klassiker hervorgeholt. Die wollen wir euch hier vorstellen und damit Beihilfe zu einem erholsamen Urlaub und Sommer leisten. Frei nach dem Motto: Wenn Dir das Leben Corona reicht, schnapp Dir ein Buch und lies!

RH


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Schattenspiele mit Bruno Schulz

„Im Juli pflegte mein Vater ins Bad zu fahren und mich zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder den weißglühenden und berauschenden Sommertagen auszuliefern. Trunken vom Licht blätterten wir in dem riesigen Ferienbuch, dessen Seiten leuchtend flammten und auf ihrem Grund das bis zur Besinnungslosigkeit süße Fruchtfleisch goldener Birnen bargen.“
So beginnt das erste Kapitel mit dem Titel „August“ des Erzählbandes „Die Zimtläden“ von Bruno Schulz. Der polnisch-jüdische Autor und Künstler lebte im Galizien der Jahrhundertwende und schildert in seinen Geschichten die Kindheit im Schtetl. Dabei stößt er neben versteckten Plätzen und Alter Egos verschiedener Familienmitglieder, auf kabbalistische Elemente und klassische Mythen, die jedoch niemals die Leichtigkeit und wundersame Authentizität seiner Erzählungen überwuchern. In den sprachlichen Kompositionen von Bruno Schulz werden sie zur harmonischen Grundierung, zum natürlichen Untergrund, auf dem ein verspielter Sommertag seinen Lauf nimmt.         

Man möchte mit ihm gehen und die Zimtläden suchen, Kirschen zum Platzen bringen und das Geheimnis der Schneiderpuppen ergründen. In der Alltags-magischen Welt des Bruno Schulz mag dafür ein Blick zur Gardine reichen: „Dann sanken die Farben um eine Oktave, das Zimmer füllte sich mit Schatten, als wäre es in das Licht der Meerestiefe versunken, es wurde noch verschwommener von den grünen Spiegeln reflektiert, und die ganze Hitze des Tages atmete auf die Vorhänge, die sich von den Träumen der Mittagsstunde leise bauschten.“
1942 wurde Bruno Schulz von einem SS-Soldaten erschossen. Sein unvollendeter Roman „Der Messias“ verschwand während der Shoah. Seine Leserschaft kann nur beginnen zu erahnen, welche Romane, welch einen Schriftsteller die Welt mit Bruno Schulz verloren hat.

Bruno Schulz (2008): Die Zimtläden (Sklepy cynamonowe, 1934), aus dem Polnischen von Doreen Daume, München: Carl-Hanser-Verlag.

von Katharina Haase


 

sekulic_norwegenIsidora Sekulić: Briefe aus Norwegen (Fridenauer Presse)

Die Friedenauer Presse hat 2019 pünktlich zum Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse das Buch „Briefe aus Norwegen“ der serbischen Autorin, Frauenrechtlerin und Reisereporterin Isidora Sekulić veröffentlicht. Sekulić ist im Herbst 1913, noch vor dem ersten Weltkrieg, allein durch Norwegen gereist und hielt ihre Reiseeindrücke fest. Ihre Naturbeschreibungen fangen das nördliche Klima mit seinem unendlichen Schnee-Weiß und seiner allumfassenden Stille gekonnt ein. Hier steht nicht immer die Erzählerin im Zentrum des Geschehens, sondern die Einheimischen, die dem Ganzen oft eine komplexe Innenperspektive geben. Der Winter stellt den Ausgangspunkt und zugleich das Ende des Lebens dar. Er formt die Natur und die Menschen. In einer Passage schreibt Sekulić folgende Zeilen dazu: „Denn der Winter ist so lang – das ist der ständige Refrain im Reden dieser Leute, das resignierte Wehklagen in einem Land, in dem der Weg von Mensch zu Mensch öde und weit ist.“

Der Wald wird als ein lebendiger Organismus dargestellt, der sich dem Winter direkt und fruchtlos stellt. Isidora Sekulić findet eine besondere Sprache für die Naturbeschreibungen, die die jeweilige Atmosphäre ästhetisch und poetisch beeindruckend wiederzugeben weiß. „In Norwegen lebt keiner von Gott verlassen“ heißt ein weiterer Brief und dem ist nichts entgegenzusetzen, da hier die Natur die Rolle des Gottes übernommen hat. Das Zwischenmenschliche wird im Einklang mit der Natur kultiviert. „Die Menschen sind Nomaden“ bei Sekulić und zu dieser Zeit dürfen auch Frauen die Rolle des Reisenden auf sich nehmen – selbständig reisen und vollständig im skandinavischen Naturmythos aufgehen.

Isidora Sekulić (2019): Briefe aus Norwegen (Pisma iz Norveške, 1914), aus dem Serbischen übersetzt von Tatjana Petzer; versehen mit wunderschönen Holzschnitten von Christian Thanhäuse, Berlin: Fridenauer Presse.

von Irine Beridze


 

168960Karel Čapek: Der Krieg mit den Molchen

Ohne Zweifel gehört auch der tschechische Autor Karel Čapek zu den großen Erzählern von Parabeln. Wohl eher bekannt für das von ihm und seinem Bruder Josef Čapek entwickelte Wort „Roboter“, das im Schauspiel R.U.R. erstmals verwendet wurde, gibt es bei diesem Autor für viele noch einiges zu entdecken. Sein 1937 erschienenes Buch „Der Krieg mit den Molchen“ ist eine satirischer Science-Fiktion-Roman und eine Parabel auf Nationalismus, Rassenwahn und Konformismus. Der Aufbau mutet teilweise komisch an, da auf einer Insel sprachbegabte Riesenmolche entdeckt werden, die von ihren Entdeckern als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Schließlich wenden sie sich gegen ihre Unterdrücker, ein Weltkrieg entsteht.

Anhand der Entwicklung der Molche wird ein düsteres Bild von Hitler-Deutschland gezeichnet. Kulturelle Referenzen wie Zeitungsauschnitte mit „Molche, werft die Juden hinaus!“ oder der Spruch „Solche Erfolche erreichen nur deutsche Milche“ auf einer Reichsflagge lassen keine andere Interpretation zu. Es ist eine Parabel, gefüttert mit Čapeks Witz, und begleitet vom Geist der Zeit, in der ein Krieg bevorstand und die Gesellschaft von Nazis unterdrückt wurde. Viele der von Čapek beschriebenen Mechanismen haben bis heute ihre Gültigkeit behalten. Der Roman liest sich leicht und lustig, obwohl ein klammes Schlucken nie ausbleibt. Wermutstropfen: Das Buch ist vergriffen. Es wäre zu wünschen, dass die Büchergilde Gutenberg, bei der das Buch farbig mit den außergewöhnlichen Illustrationen Hans Ticha neuverlegt wurde, eine Neuauflage auf dem Markt bringt. Ansonsten fragt in Eurer örtlichen Bibliothek oder dem nächsten Antiquariat nach, vielleicht habt ihr Glück!

Karel Čapek (2016): Der Krieg mit den Molchen (Válka s Mloky, 1936), aus dem Tschechischen von Eliška Glaserová, mit Illustrationen von Hans Ticha, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg.

von Ruben Höppner

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