“Der grausame, gefräßige Gott Chronos, der Kinder zeugt, um sie am Ende, mag es schnell oder langsam kommen, mit seinen Kiefern zu zermalmen, sie zu verschlingen oder auszuspucken.”
von Annika Grützner
Ich will ehrlich sein: Historische Romane sprechen mich nicht wirklich an. Das war wohl auch der Grund, wieso ich viel zu lange gewartet habe, “Chronos erntet” der slowenischen Autorin Mojca Kumerdej (Wallstein Verlag, übersetzt von Erwin Köstler) endlich zu lesen. Unter dem beworbenen “Renaissance-Roman” konnte ich mir nichts vorstellen bzw. immer dann, wenn ich zu dem Buch greifen wollte, nur Dinge, für die ich nicht in Stimmung war. Bereits auf den ersten Seiten fühlte ich mich in meinem vorschnellen Urteil bestätigt. Die Erzählung startet mit einem jungen Mädchen, das ungewollt schwanger wird und der Familie aus Scham und Unglück die Lüge auftischt, sie wäre im Rahmen einer Hexenorgie vom Teufel zum Beischlag gezwungen wurden. Diese Passage wird begleitet von anzüglichen Schilderungen, die immer mehr Leid offenbaren. Dennoch las ich weiter, fühlte mich immer aber noch davon überzeugt, dass dieser Roman nicht das richtige für mich sei. Und dann passierte es: “Chronos erntet” zog mich in seinen Bann. Ich musste lachen und weinen, regte mich über die Figuren auf und fieberte mit ihnen mit. Die 472 Seiten flogen nur so dahin!
Mitteleuropa im 16. Jahrhundert: Die Herrscher in ihren sicheren Burgern fordern immer mehr von ihrem Volk und bestimmen den Alltag der armen Bauern, Hexenprozesse stehen auf der Tagesordnung und der Glaube spaltet sich zwischen der katholischen Kirche und den protestantischen Lutheranern. Das einfache Volk leidet unter Seuchen, Hungersnot und Unfreiheit. Frauenrechte sind ein Fremdwort. Ihnen empfiehlt man lieber, “[…] nicht die Stirn zu runzeln und überhaupt möglichst wenig zu denken, damit ihr Gesicht nicht allzu rasch faltig werde und die Melancholie nicht ihre Seele befalle […]”.
In dieser düsteren Vergangenheit lernen wir im Laufe des Romans verschiedene Figuren kennen, die sich mit den angeblich von Gott gegebenen Regeln nicht abfinden wollen oder sich umso mehr dafür einsetzen. Ein Stadtschreiber wird so beispielsweise zum Philosophen, während ein Geistlicher seinem Freund und Grafen dazu rät, wahllos einen Hexenprozess anzustacheln, um das aus der Kontrolle geratene Volk wieder zur Vernunft zu bringen und Stärke zu zeigen. Viel wird darüber diskutiert, was die Aufgabe des Menschen auf der Erde ist, immer stehen sich dabei Fortschritt und Glaube im Weg.
“Wenn am Horizont eine neue Katastrophe heraufzieht, und zwar nicht nur dir, auch deinen Nächsten, macht das Glück einen weiten Bogen um uns, während die anderen, die Gottes Gesetz polternd übertreten, im schönsten Frieden leben und sich einen Wanst anfressen, denn das Leben legt ihnen aus unerfindlichen Gründen die größten und schmackhaftesten Bissen auf den Tisch.”
In “Chronos erntet” gelingt es der Autorin trotz des schwierigen Stoffs, Dialoge und Geschehnisse voller Humor und Spannung zu zeichnen. Ist der Zusammenhang der ersten Kapitel untereinander am Anfang noch unklar, ergibt sich immer mehr ein Gesamtbild und die Leser*innen verstehen besser, wie alle Charaktere zusammenhängen. Kumerdej spielt mit den gängigen Motiven des Mittelalters und überrascht mit einigen Brüchen. Nennenswert ist hier als Beispiel der humanistische Richter, der in den Vorwürfen der Hexerei nur Propaganda sieht und die angeklagten Frauen freispricht. Doch wer genug Fürsprecher und Geld hat, steht im Auge des gespielten Gesetztes am Ende immer besser da, als eine arme Bauerntochter, die zu schön für ihre eifersüchtigen Nachbarinnen ist und so natürlich als verführerische Hexe auf dem Scheiterhaufen brennen muss, wenn sich die Männer in ihrer Anwesenheit nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren können.
Eine große Leseempfehlung für “Chronos erntet”!
- Gebundene Ausgabe: 472 Seiten
- Verlag: Wallstein; Auflage: 1 (4. März 2019)
- Übersetzung: Erwin Köstler
- ISBN-13: 978-3835334427