Leben am Gleis: “Der Nulluhrzug” von Juri Buida

“Alles, was ich habe, ist hier. Und wenn dieses alles der Nuller ist und für den Nuller, dann ist alles, was ich habe, der Nuller. Egal, wie er ist. Empfangen und weiterleiten. Auf den Punkt.”

Von Annika Grützner

41hI-AmUBoLStacheldraht, Wachhunde und die Aufgabe, den sogenannten Nulluhrzug ohne Probleme passieren zu lassen. Das ist der Alltag der Protagonisten von Juri Buidas “Nulluhrzug”. Die Geschichte wurde bereits 1993 in Russland veröffentlicht, ist aber jetzt erstmals in deutscher Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt im Aufbau Verlag erschienen.

“Nulluhrzug” ist ein intensives Leseerlebnis. In einer harten und ehrlichen Sprache schreibt Buida in dem schmalen Buch über die Trostlosigkeit des Lebens im Gulag. Dabei geht es den Einwohnern der Siedlung Nummer 9 auf den ersten Blick noch verhältnismäßig gut. Sie haben Essen und Trinken und stehen nicht im Mittelpunkt körperlicher Attacken durch die Offiziere. Vieles befindet sich jedoch zwischen den Zeilen, steckt in kurzen Wörtern und Taten. Im Mittelpunkt steht dabei immer der mysteriöse, komplett verplombte Zug, dessen unbekannte Ladung zur Diskussion anregt. Für alle ist der zur Hauptaufgabe ihres Lebens geworden, einige zerbrechen, andere wachsen daran. Don Domino gehört zu den wenigen in seinem Umfeld, die nicht am monotonen Alltag zugrunde gehen. Immer wieder fragt er seine Freunde und sich selbst, was der Zug ihrer Meinung nach transportiert. Sind es Waren? Waffen? Vielleicht sogar Menschen? Doch natürlich hat niemand eine Antwort.

Rollende Züge sind wohl eines der stärksten Bilder des Zweiten Weltkrieg. Sofort kommen dabei die Bilder des Holocaust und der Waffen- und Gefangenentransporte in den Kopf. Auch in “Nulluhrzug” werden diese Bilder automatisch heraufbeschworen. Gleichzeitig steht der Zug in seiner Freiheit der Bewegung für etwas, was den Bewohnern der Siedlung verwährt bleibt. Jeden Morgen stehen sie mit dem Wissen auf, dass sich nichts ändern wird und dass sie die Siedlung nicht einfach verlassen können.
“Nulluhrzug” wird vom Verlag als “Parabel über die zerstörerische Kraft der Diktatur” bezeichnet. Ja, das ist sie!

  • Gebundene Ausgabe: 142 Seiten, 18 € (D)
  • Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 1 (10. März 2020)
  • Nachwort: Julia Franck
  • Übersetzung: Ganna-Maria Braungardt
  • ISBN-13: 978-3351037857

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