Namenlos und ein anderer: „Zwei Jahre Nacht“ von Damir Ovčina

Nach 750 Seiten atme ich auf. Die Anspannung in meinem Körper löst sich. Ich lasse Luft in die Lungen und spüre Erlösung. Der Krieg ist aus, die Nacht hat ein Ende. Damir Ovčinas Roman „Zwei Jahre Nacht“ (Rowohlt Berlin) bringt die Zeit des Bosnienkriegs von 1992 bis 1995 bedrückend nah an die Leser heran. Eine Erfahrung, die sehr unbequem, aber unglaublich wertvoll ist, weil sie so viel Wahrheit über die Schrecken dieses Krieges und seiner Opfer offenlegt.

Von Ricarda Fait

U1_978-3-7371-10051-9.inddEin 18-Jähriger, der gerade am Ende seiner Schulzeit ist und seine Mutter verloren hat, wird durch einen Zufall in einem Stadtteil von Sarajevo eingeschlossen. Der Krieg um ein unabhängiges Bosnien und Herzegowina ist bereits ausgebrochen und er steckt als Bosnier in dem nun serbisch besetzten Grbavica fest. Die Menschen, die bis vor kurzem noch Nachbarn waren und gemeinsam lebten, werden plötzlich in die „Unseren“ und die „Anderen“ eingeteilt. Dieser Irrsinn wird sprachlich gerade darin deutlich, dass die meisten der beschriebenen Personen keine Namen haben. Der Leser weiß nicht, wer zu wem gehört. Die Perspektive des Ich-Erzählers erklärt ebenfalls nichts. Mit und durch ihn sehen wir, was er sieht: Leichen, Vergewaltigungen, Bereicherung, schreckliche Gewalt.

Er wird einer serbischen Arbeitsbrigade zugeteilt und schleppt Kühlschränke, Waschmaschinen und Tote aus den Häusern. Letztere vergraben sie auf dem Trebević. In trockener Erzählweise beschreibt der namenlose Erzähler die Stadt seiner Jugend, die nun durch den Krieg surreal verzerrt scheint. Zunächst wird er beschützt durch den Kommandanten der Arbeitsbrigade, der nicht möchte, dass nach dem Krieg alle schlecht von den Serben denken. Er handle ja immerhin im Namen Gottes. Doch auch der Kommandant flüchtet irgendwann aus dieser Hölle und der junge Erzähler bleibt den weniger ideell handelnden Besatzern nun schutzlos ausgeliefert.

Er kann sich nur knapp vor einem Mordversuch retten, indem er selbst seine Angreifer umbringt. Doch aus dem besetzten Grbavica kommt er nicht raus, weshalb er sich vor Vergeltungsschlägen in einer Wohnung versteckt, die seine Familie in diesem Stadtteil besitzt. Nur eine wenig ältere Nachbarin ist außerdem noch mit ihrer Großmutter geblieben. Sie kümmert sich um den jungen Mann, versorgt ihn mit Essen, schützt und deckt ihn. Auch ihr Name bleibt für den Leser unbekannt, aber es ist der richtige, um von den Besatzern freundlich behandelt zu werden.

So vergehen Jahre, in denen der Junge in seinem Versteck ausharrt und zu einem Mann heranwächst. Nur ein wenig Platz bleibt in dem Leben der beiden Nachbarn für eine angedeutete Liebesgeschichte. Abgesehen davon kostet es dem Namenlosen in beinahe völliger menschlicher Isolation viel Mühe, seine Identität aufrechtzuerhalten. Was ihm jedoch dabei hilft, ist zu schreiben. So protokolliert er in Schulheften alles, was um ihn herum passiert und was ihm zugestoßen ist. Das Schreiben wird für ihn zum Kampf gegen das Vergessen sowie die Behauptung des eigenen Selbst.

„Ich solle etwas aufschreiben von all dem, was in Grbavica passierte. Damit es morgen nicht heißt, wir hätten das alles nur geträumt. So wie es uns jetzt erscheint, als hätten wir das gewöhnliche, normale Leben nur geträumt“– in dieser Aufgabe, Zeugnis abzulegen, ähnelt der Ich-Erzähler vielleicht dem Autor. Damir Ovčina, Jahrgang 1974, war selbst während des Krieges im feindlichen Stadtteil eingeschlossen und ist jetzt Direktor einer Schule für sehbehinderte Kinder in seiner Heimatstadt. Für seinen Roman, den er zwanzig Jahre nach seinem Debüt veröffentlichte, wurde er in Bosnien und Herzegowina sowie im südslawischen Raum gefeiert. „Zwei Jahre Nacht“ in der Übersetzung von Mascha Dabić ist das erste von ihm auf Deutsch erschienene Buch.
Ich hatte die Möglichkeit, den Autor nach dem Einfluss seiner persönlichen Erlebnisse auf den Roman zu fragen, worauf er antwortete:

„Ich habe viele Bilder als Erinnerungen bewahrt, sie sind der Kern meines Romans. Ich musste aber einen Weg finden, um eine Geschichte um sie herum zu formen. Das Menschsein definiert sich über Erinnerungen, insbesondere bei Schriftstellern. Erinnerungen sind ihr Basiskapital. Ohne sie haben Schriftsteller nichts – nur Bilder ohne Tiefe, die sich zu schnell bewegen, um verstanden zu werden.“

Bei seiner Arbeit am Roman, so erklärt er, wollte er Antworten finden auf das Leben. Nur ist das Leben viel komplexer als eine Geschichte: „Das Material, das wir zum Schreiben benutzen, ist das Leben. Und es besitzt eine hohe Widerstandskraft gegenüber einer Geschichte. So als ob es nicht benutzt werden wolle, um daraus Kunst zu machen. Eine Art von natürlichem Widerstand. Wie der Stein für die Skulptur.“ Aus diesem Grund sei die Arbeit sehr hart gewesen, auch weil er dabei reale Personen im Kopf hatte, die sich gegen ihre Vereinnahmung wehrten. Also entschied er, sich diesen Charakteren unterzuordnen: „Ich versuche, ihnen zuzuhören und ihre Wörter und Bewegungen so darzustellen, wie sie sind. Ich möchte kein Diktator in meiner fiktionalen Welt sein. Charaktere haben ihren eigenen Willen, ihre Persönlichkeit, Stimme, Freiheit und sie folgen ihrem eigenen Schicksal.“

Vielleicht ist diese Haltung der Grund für den besonderen Schreibstil. Kurze, oft verbfreie Sätze, die keinen Raum für Poetik lassen, stattdessen protokollarische, auf wesentliche Fakten begrenzte Darstellungen. Keine auktoriale Erzählperspektive hätte hier die Chance, die Situation narrativ zu deuten. Dennoch werden bestimmte Details ausgelassen: „Es scheint, was nicht direkt bezeichnet ist, gibt mehr Kraft“, formuliert Damir Ovčina und markiert damit genau das, was dieses Buch für mich so stark macht. Es gibt darin keine Verurteilung, kein Schwarz und Weiß. Damit werden Täter- und Opfernarrative sowie gängige Erwartungen an eine Geschichte durchbrochen. Und er öffnet den Blick für die Tiefen, Abgründe eines jeden einzelnen Menschen im Krieg, aber auch dessen rettende Kraft.

 

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