„Tamar, where Are You?“ von Andreas Oetker-Kast ist kein klassisches Reisefotobuch. Der Fotograf und Herausgeber dieses zweisprachigen (Deutsch/Englisch) Bandes hatte ursprünglich das Ziel, das für ihn noch unbekannte Land im Kaukasus – Georgien (geo. Sakartvelo) – fotografisch zu erfassen. Allerdings wurde ihm hierbei sehr schnell klar, dass dafür nur die fotografische Perspektive nicht wirklich ausreichen würde. So kommen auch georgische Stimmen zur Sprache und bieten uns weitere künstlerische Sichtweisen auf Georgien. Andreas Oetker-Kast hat für dieses Buchprojekt georgische AutorInnen und FotografInnen ins Boot geholt: Dato Turaschwili, der Autor des Romans „Westflug“; Ana Kordzaia-Samadaschwili – ebenfalls eine Autorin aus Georgien, Natela Grigalaschwili – einer der wichtigsten Fotografinnen des Landes, die sich in all ihren Werken durch ihre besonders interessanten Themen auszeichnet; oder weitere FotokünstlerInnen wie Dina Oganova, Guram Tsibakhashvili oder Yuri Mechitov.
Dato Turaschwilis zeichnet in seinem Text „Freiheit für immer“ die Geschichte dieses uralten Landes angefangen von Kolchis bis zur gegenwärtigen Lage nach. Er geht auf die georgische Schrift, Essenskultur und weiteren kulturellen Besonderheiten des Landes ein. Wichtig ist für ihn die historische Rolle der Frauen in Georgien, insbesondere der Königin Tamar, die mit einem großen emanzipatorisches Potential regiert hat:
„Tamar war die Königin Georgiens. Ende des 12. Jahrhunderts führte sie das Land auf den Höhepunkt seines goldenen Zeitalters, modernisierte das politische System und brachte erste Elemente von Bürgerrechten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit ein. Als ich 2011 zum ersten Mal nach Georgien kam, hatte ich keine Ahnung.“ (Andreas Oetker-Kast)
Yuri Mechitovs bekannte Fotoserie „Zeuge sein“ versammelt Bilder zu den Erreignissen am 9. April 1989, als die russischen Panzer die friedlichen Demonstranten vor dem Parlament in Tbilissi angriffen und dabei mehrere Menschen töteten. Die 90er Jahre, der Bürgerkrieg, die zerbombte Stadt, Armut und darauffolgende Stagnation ist hier der Mittelpunkt der Kameralinse. Das Fotoprojekt „Leben auf den Gleisen“ von Vakho Khetaguri fängt in schwarz-weißen Aufnahmen Züge, Menschen, Bewegung und Leben auf den Bahnhöfen ein. Hier ist die Eisenbahn als Mittel zur Fortbewegung das Hauptthema für den Fotografen. Dina Oganova „Meine Wohnung“ ist eine Fotoserie, die sich mit der postsowjetischen Generation der Georgier beschäftigt. Die Protagonisten werden hier in ihren Wohnungen fotografisch festgehalten:
„Diese Generation ist auf der Suche nach Freiheit – einer echten Freiheit. Es ist eine Generation an der Kreuzung zweier Jahrhunderte, eine Generation, die eine Umgebung bekämpft, die sie limitieren will.“
Natela Grigalaschwilis „Dorf der Mäuse“ ist ein äußerst intimes und persönliches Fotoprojekt. Die Fotografin konzentriert sich hier auf ihr Heimatdorf „Tagveti“ (deutsch: Dorf der Mäuse), das sich mit der Zeit immer mehr leert. Es ist ein persönliches schwarz-weiß Archiv der Erinnerungen an Dorfbewohner und Landschaften, ein Gedächtnis, das eine unglaubliche Stärke und Charakteristik zeigt. Giorgi Shengelias „Unbekannte Stadt“ nimmt wiederum die Obdachlose in Tbilissi mit einem empatischen Blick auf.
Insgesamt bietet das Fotobuch „Tamar, where are you?“ eine breite Palette der in Georgien lebenden und wirkenden Fotografen und verschafft uns damit einen ersten Eindruck über die aktuelle Fotokunst Georgiens.
„In schwindendem Licht. Spuren jüdischen Lebens im Osten Europas“ von Christian Herrmann (Lukas Verlag) ist eine besondere Spurensuche im Fotoformat. Das zweisprachige (Englisch/Deutsch) Fotobuch verfolgt jüdische Spuren in Osteuropa. Wie im Vorwort erläutert wird, ist der Fotograf bei seiner Arbeit nach einem Motto von Walter Benjamin „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen“ vorgegangen. Es sind alte Synagogen in der Ukraine, in Galizien, die ehemaligen jüdischen Gemeindezentren, die am Zerfallen sind, Trümmer, Ruinen und die letzten Spuren des jüdischen Lebens in Wolhynien, in Bessarabien in der Republik Moldau, die hier vom besonderem Interesse sind.
Wir sind beim Blättern des Buches zugleich auf einer Entdeckungsreise: der Fotograf hält mit seiner Kamera eine Synagoge fest, die in der Sowjetzeit als Club einer kommunistischen Jugendorganisation zweckentfremdet wurde; Wandmalereien und Fotos, Spendenbüchsen in den jüdischen Schulen in Chernowitz, Ladenschilder eines jüdischen Hutmachers in Lviv, Spuren von Mesusa an den Türen, die mit der Zeit mit mehreren Putzschichten verdeckt, aber irgendwann trotzdem sichtbar werden. Es werden jüdische Grabsteine, Mazewot, gefunden und fotografisch festgehalten, die von den Nationalsozialisten in den osteuropäischen Städten für unterschiedliche Zwecke benutzt wurden: man baute damit die Mauer eines christlichen Friedhofs, sie wurden als Schleifsteine benutzt oder im Pflaster eines Hinterhofs verlegt. Wir sehen hier Synagogen, die heute als Sporthallen, Kinos, Kirchen oder als sprivate Wohnhäuser genutzt werden.
„Georgien ist ein fotogenes Land. Wer es besucht, kehrt nicht ohne einen Satz atemberaubender Bilder zurück.“
Der Bildband „Wartezimmer zum Glück“ (mitteldeutscher verlag) vereint drei Fotoserien von Natela Grigalashvili, Anka Gujabidze und Daro Sulakauri, die das Leben in Georgien aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Die Reportagen der Fotojournalistinnen tragen Titel wie „Grenzverschiebungen“, „Geraubte Jugend“ oder „Rusrawi“ und behandeln den Alltag mit all seinen Freuden und Problemen. So geht es in „Geraubte Jugend“ beispielsweise um Zwangsehen, die unter Minderjährigen geschlossen werden, der Teil „Bianka“ widerum befasst sich als Fotoserie mit der Transgenderaktivistin Bianka, die sich und ihren Lebensweg in einer tiefreligiösen Kultur der Ablehnung in ihrem Land nicht aufgibt.
Das „Wartezimmer zum Glück“ ist bezeichnend für einen Zustand zwischen Heimat und Fortgehen, Grenzen und Freiheit. Die Fotografien zeigen dabei in stimmungsvoller Weise die Gegensätze des Landes. Georgien kommt hier besonders rau und hart rüber, speziell auf den Fotos, die sich mit den Grenzgebieten wie dem Land der Duchoborzen oder Adscharien befassen. Über jede Fotoserie ließe sich ein eigener Absatz schreiben. Was fühlen die Menschen auf ihnen? Mit welchen Problemen kämpfen sie und was sind ihre Träume? Wohin führt sie ihr Leben? „Wartezimmer zum Glück“ ist ein beeindruckendes Dokument eines Landes, das immer mehr „boomt“, vor allem touristisch, dessen Bevölkerung, gerade auf dem Land, aber noch viele verschiedene Grenzen (real und gesellschaftlich) überwinden muss. Im Vorwort stellt Friederike Hofert den strahlenden Urlaubsfotos der Touristen voller Natur und Klöster die Perspektiven von Grigalashvili, Gujabidze und Sulakauri entgegen. Sie erzählen die realistischere Geschichte Georgiens zwischen Tradition und Moderne und präsentieren diese zutiefst ehrlich.
von Annika & Irine
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