Das polnische Dorf Hektary der 80er Jahre ist ein verschlafenes Nest, an dem die meisten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit unbeachtet vorbeigehen. Die Bewohner leben ihr ländliches Leben und jeder kennt jeden. In dieser Umgebung wuchs die heute in England lebende polnische Autorin Wioletta Greg auf und berichtet in „Unreife Früchte“ (C.H. Beck) in verschiedenen Episoden von ihrer Kindheit und Jugend zwischen Katholizismus und Sozialismus.
„Eines Tages, Mitte Juli, kam Vater früher von der Arbeit nach Hause, und während er an den Kronleuchtern die Klebestreifen für die Fliegen wechselte, sagte er zu Mama, in ein paar Tagen werde in Polen der Kriegszustand aufgehoben.“
Wiolka ist ein aufgewecktes und neugieriges Kind. Das Haus, der Garten und die Umgebung werden zum Spielplatz, die Natur ist ihr zu Hause. Und in Hektary ticken die Uhren etwas langsamer. Man geht in die Kirche, tauscht Essen gegen Waren und tratscht über die Nachbarn. Um dem tristen Alltag zu entfliehen, flüchtet Wiolka sich in ihre Fantasie. So wird der Schuppen bei Regen zu einem riesigen Wal, der sie verschlungen hat oder der Tisch in der Küche zur Höhle. Später kommen dann die Pubertät und die Jungs dazu. Gemeinsam mit Freunden sammelt sie Schrott und Etiketten, schnüffelt von den Stoffen, die ihr Vater zum Ausstopfen von Tieren aufbewahrt, und macht ihre ersten sexuellen Erfahrungen.
Unter dem Titel „Swallowing Mercury“ erschien „Unreife Früchte“ zuerst in Großbritannien und in den USA, wo er auch auf der Man Booker International Longlist stand. Mal heiter, mal ernst, berichtet Greg im Roman von ihren Erinnerungen und lässt dabei scheinbar nichts aus. Der Verlust ihres geliebten Vaters, sexuelle Übergriffe des Doktors oder der Krämerin sowie der plötzliche Tod ihres ersten Katers thematisiert sie ebenso wie die kurzen, aber schönen Momente in Hektary. 22 unterhaltsame Episoden bilden so das Gesamtbild des Aufwachsens in einem Land, das kurz vor einer Erschütterung steht. „Unreife Früchte“ ist ein mutiger Coming-of-Age-Roman, der ein ganzes Jahrzehnt in einer sehr atmosphärischen Stimmung wiedergibt.
- Gebundene Ausgabe: 143 Seiten, 18,95 € (D)
- Verlag: C.H.Beck; Auflage: 1 (26. Januar 2018)
- Übersetzung: Renate Schmidgall
- ISBN-13: 978-3406718830
- Originaltitel: Guguly
Annika
Schöne Besprechung! Ich musste im ersten Moment an Szilárd Borbélys “Die Mittellosen” denken. Ähnliches Setting, nur Land und Zeit sind unterschiedlich. Fand ich auch sehr lesenswert: https://makollatur.wordpress.com/2017/06/08/89/
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