Die literarische Tätigkeit der Autorin Natascha Wodin nimmt ihren Anfang in den 80er Jahren. 1983 ist ihr erster Roman „Die gläserne Stadt“ erschienen. Dann folgten zwar weitere Veröffentlichungen, doch die breite Leserschaft erreichte die Autorin erst mit ihrem aktuellen Roman „Sie kam aus Mariupol“ (Rowohlt Verlag, 2017). Für dieses autobiografische Buch wurde sie dieses Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und das deutschsprachige Feuilleton schenkte dem Roman große Aufmerksamkeit. Natascha Wodin wurde 1945 in Deutschland in einer russisch-ukrainischen Zwangsarbeiterfamilie geboren, die während des Zweiten Weltkrieges aus der Sowjetunion nach Deutschland verschleppt wurde.
Wie oft in den Romanen mit einer ähnlichen Thematik, fängt auch bei Wodin alles mit der Recherche im Internet an. Die literarische Figur der Autorin gibt in der Suchmasche den Namen ihrer Mutter ein und öffnet nicht nur online die verlorene Seite ihrer Familiengeschichte, nach der sie all die Jahre davor erfolglos gesucht hatte. Ihre aus Mariupol deportierten Eltern wurden während des Krieges als Zwangsarbeiter in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns in Leipzig eingesetzt und gründeten nach Kriegsende eine Familie in Westdeutschland. Doch das Nachkriegsleben gestaltete sich für sie alles andere als idyllisch. Der Selbstmord der Mutter von Natascha Wodin eröffnet und schließt die Erzählung und damit auch die ganze Familiengeschichte der Autorin. Beim Lesen des Buches hat man oft das Gefühl, diese Art vom Erzählen der eigenen Familiengeschichte bereits aus einem anderen Buch zu kennen. Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“ (Suhrkamp Verlag 2014) funktioniert auf den ersten Blick als Pendant zu Wodins Roman. Die komplexen Fragen nach der Zuverlässigkeit des eigenen Gedächtnisses und der familiären Überlieferungen spielt bei Wodin, wie bei Petrowskaja, eine wichtige Rolle. Was ist damals in Wirklichkeit passiert und was hat das Familiengedächtnis in den Jahren danach dazugedichtet? Was wissen wir über unsere Vorfahren und was können wir noch herausfinden? Nicht nur die Figur der Mutter Jewgenia Iwaschtschenko steht hier im Mittelpunkt der Erzählung, sondern auch ihre Schwester Lidia mit ihrem nicht minder aufregenden Leben.
Eine wichtige Leistung des Buches ist die Beschäftigung mit den Schicksalen der sowjetischen Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges. Dieses Thema ist in der deutschsprachigen Literatur ein noch nicht aufgearbeitetes Terrain und Wodin macht hier mit Sicherheit einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung. Die Erzählerin des Buches versucht mit Vorsicht und durch die Vermeidung der einfachen Gegenüberstellung von Opfergruppen der Konzentrationslager und der nichtjüdischen Zwangsarbeitern an Letztere zu erinnern, indem sie über das Leben ihrer Eltern erzählt:
„Seit vielen Jahren schon suchte ich nach irgendeinem Buch von einem ehemaligen Zwangsarbeiter, nach einer literarischen Stimme, an der ich mich hätte orientieren können, vergeblich.“
Während der erste Teil des Buches eher durch die erzählerischen und stilistischen Schwächen geprägt ist, nimmt die Erzählung in der zweiten Hälfte immer mehr an Wucht an, die mehr und mehr überzeugt. Als die Erzählerin über die ersten Nachkriegsjahre ihrer Familie in Deutschland erzählt und ihre Geschichte nicht mehr aus der unzuverlässigen Begebenheiten der Vergangenheit zusammensetzt und schöpft, sondern aus ihren unmittelbaren Kindheitserinnerungen, beginnt der spannendste und zugleich der stärkste Teil des Buches. Mit einer ausgewogenen und nüchternen Sprache erzählt hier Wodin von den schweren psychischen Zuständen ihrer Mutter, die sich von ihren beiden Töchtern immer mehr entfernt, auch von dem gewaltätigen Vater und von dem Leben am Rande der deutschen Gesellschaft, in der sie stets als unerwünschte Ausländer betrachtet werden. Die Erzählerin erzeugt Bilder, die durch ihre Grausamkeit und Brutalität schockieren und zugleich zum Nachdenken motivieren, um die Komplexität und zerstörerische Kraft des Krieges am Beispiel von einzelnen Schicksalen sichtbar machen zu können. Ihre Mutter ist das Fundament ihrer Familiengeschichte und ausgerechnet sie geht als Erste zugrunde – u.a. wegen der Verlust ihrer Heimat, wegen des grausamen Krieges und der darauffolgenden Zwangsarbeit.
von Irine
Natascha Wodin (2017): Sie kam aus Mariupol. Reinbek: Rowohlt Verlag.