Düsteres Märchen: “Der Heilige mit der roten Schnur” von Flavius Ardelean

“Was siehst du?” […] “Bartholomäus, den guten Gesellen und teuren Bruder, und Taush, den Heiligen von Gaisterştat und Wanderer auf den Schwellen. Sie fahren vor uns in ihrem Karren und wir ihnen nach, unser Pferd tritt in die Spuren ihres Pferdes und unser Karren gleitet in den Rinnen, die ihr Karren hinterlassen hat, dahin.”

41NKmn+rMNLDer rumänische Autor Flaivius Ardelean (1985 geboren) zählt zu den fantastischen Stimmen Rumäniens, der H.P. Lovecraft, Franz Kafka und Alfred Kubin zu seinen Vorbildern zählt. Ardelean ist ist Mitglied der Horror Writers Association und wurde
u. a. zweifach für sein literarisches Werk mit dem rumänischen Colin Award für fantastische Literatur ausgezeichnet.  Mit “Der Heilige mit der roten Schnur” ist jetzt in einer Übersetzung von Eva Ruth Wemme im homunculus verlag erstmals eines seiner Werke auf Deutsch erschienen. Die stimmungsvollen Illustrationen stammen von Ecaterina Gabriela.

“Der Heilige mit der roten Schnur” entführt uns in die dunkle Fantastik. Erzählt wird die Geschichte dabei von dem lebendigen Skelett Bartholomäus, der einen Wanderer auf seiner Reise begleitet und ihm dabei gegen einen hohen Preis seine Welt offenbart:
Taush wird in seiner Heimat Gaisterştat schon früh als Heiliger gefeiert. Er besitzt die Gaben, mittels roter Schnur, die er aus seinem Bauchnabel zieht, Sterbende auf ihrem letzten Weg zu begleiten und kranke Tiere zu heilen. Gleichzeitig steht er immer auf der Schwelle zwischen WELT und UN’WELT; ein schweres Los, das ihn emotional immer tiefer hinabzieht. Seine Lehrjahre verbringt Taush gemeinsam mit anderen Schülern beim alten Alten Tace, doch nach dessen Verschwinden begibt er sich schließlich gemeinsam mit zwei Freunden auf die Reise gegen das Böse, das sich als Jahrmarkt der üblen Dünste manifestiert und die Dörfer und Städte ins Unglück stürzt.

Taush wird vom Ekel begleitet, der sich in höllenhaften Gestalten zeigt. Und je weiter ihn sein Weg führt, desto größer werden die Opfer, die er bringen muss. Wird das Buch doch als modernes Märchen beworben, gibt es allerdings hier kein Happy End inklusive “Und sie lebten glücklich, bis …”. Die Welt, in die uns Ardelean wirft, ist düster, gefährlich und deprimierend. Doch im Vordergrund stehen auch immer die emotionalen Werte, die die Figuren durch die Geschichte tragen. Taushs Zuneigung zu seinen Eltern gibt ihm Kraft, der Glaube an die Liebe ist der Ansporn für seine Reise.

Ardelean versteht es gut, den Horror in seine Geschichte zu bringen. Scheinbare Pferde auf Stelzen schauen Taush mit toten Augen an, ein fohlenartiges Baby wird der Tochter des Bösen aus dem Leib gerissen, bevor sie verbrannt wird, Frauen missbrauchen die Reisenden als Sexsklaven und zerfallen dann in fleischliche Schichten, als hätte man sie Stück für Stück aufgeschnitten. “Der Heilige mit der roten Schnur” ist nichts für schwachen Nerven, bildgewaltig wird der Ekel auch für die Leserschaft wiedergegeben. Ein mutiges Horrormärchen!

  • ISBN: 978-3946120902, 22€ (D)
  • Übersetzung: Eva Ruth Wemme
  • Gebundene Ausgabe : 216 Seiten
  • Herausgeber : homunculus verlag; 1. Auflage (10. September 2020)

von Annika Grützner

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