Der russischsprachigen Autorin Gusel Jachina gelang mit ihrem Debüt “Suleika öffnet die Augen” (Aufbau Verlag) über eine junge Frau, die in den 30er-Jahren nach Sibirien deportiert wird, ein Welterfolg. Ihr zweiter Roman “Wolgakinder” (Aufbau Verlag) versetzt die Leserinnen und Leser noch ein Stück weiter zurück in die Vergangenheit der Deutsch-Russischen Geschichte.
1916 führt der Schulmeister Jakob Bach in dem von Deutschen besiedelten Gebieten an der Wolga ein einsames, aber zufriedenes Leben. Als die junge Klara am anderen Ufer des Flusses zu seiner Privatschülerin wird, verändert sich sein Leben schlagartig. Er verliebt sich in das schüchterne Mädchen, das sich auf Anweisung ihres Vaters stets hinter einem Paravent verbirgt. Als der strenge Vater plant, mit seiner Tochter wieder zurück nach Deutschland zu gehen, bricht für Bach eine Welt zusammen. Doch Klara widersetzt sich überrascht diesen Plänen und für Bach beginnt ein zweites Leben an der Seite seiner großen Liebe.
Die Geschichte um Bach und Klara ist keine glückliche. Von Anfang an setzt Jachina den Fokus auf die Emotionen ihrer Figuren, die stets mit sich und den äußeren Umständen kämpfen müssen. Bach ist ein Eigenbrötler, in seinem Fachgebiet der Deutschen Literatur und Sprache zwar ein Genie, aber im Alltag fast schon hilflos. Seine Liebe zu Klara wird zur Obsession, die sie beide noch mehr von der Außenwelt abschneidet. So vergehen die Jahre um die Hauptfiguren, in denen sich für sie nicht viel ändert. Das steht im klaren Gegensatz zu den Entwicklungen in Russland, von der Revolution bis zur Gründung der Sowjetunion. Jachina versucht das in kurzen Passagen zu Lenin und Stalin einzubinden, um den zeitlichen Verlauf besser darzustellen. Leider stören diese Kapitel eher, als das sie die Geschichte voranbringen. Wirklich spannend sind dafür aber die Schnipsel, die Bach von den Veränderungen im Land mitbekommt. Sein Heimatdorf wandelt sich von einer deutschen Gemeinschaft zu einem mit strenger kommunistischer Hand geführten Ort. Bach selbst versucht die Entwicklungen, die er teilweise nur einmal im Jahr auf seinen seltenen Besuchen aktiv miterlebt oder beobachtet, in Jahresbezeichnungen einzuteilen. So springen wir mit ihm innerhalb von 20 Jahren vom “Jahr der Verwüsteten Häuser” zu den “Jahren des Ewigen Novembers”.
Jachina wählte für ihren Roman eine scheinbar unwirkliche und mystische Welt. Für Bach schuf sie ein Haus am Ufer der Wolga, versteckt durch die Bäume und abgeschnitten von der Außenwelt. Ein Ort, der zeitlos erscheint. Und ein Ort, an dem man die grausame Vergangenheit nur durch eine Art Fernglas beobachtet.
“Wolgakinder” ist ein märchenhafter Roman voller zerstörerischer Liebe und Einsamkeit. Ein Roman, bei dem man den Schmerz der Vergänglichkeit und Veränderung fast physisch spüren kann – Seite um Seite.
von Annika Grützner
- Gebundene Ausgabe: 591 Seiten, 24 € (D)
- Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 1 (16. August 2019)
- Übersetzung: Helmut Ettinger
- ISBN-13: 978-3351037598