Im Auftrag des Spiegel ist der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani von seiner Heimatstadt Köln über Mittel- und Osteuropa bis nach Isfahan – die Heimatstadt seiner Eltern – gereist. Nach der Veröffentlichung der einzelnen Reiseberichte im Spiegel ist dieses Jahr bei C.H. Beck ein umfangreiches Reisebuch „Entlang den Gräben“ erschienen. Ein Buch, das in Mittel- und Osteuropa, in den postkommunistischen und postsowjetischen Ländern eine Bestandsaufnahme vornimmt und rückblickend auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart und die Zukunft schaut. Osteuropa – ein geografischer Raum, der durch Kriege, Massaker, durch den Terror der Diktaturen ein „Bloodland“ geworden ist. Die beiden Weltkriege markieren und prägen die lokalen Geschichten der Länder maßgebend, die Kermani durch seine Reise erkundet.
Die erste Station ist Polen. Von Berlin reist der Autor nach Breslau, nach Auschwitz, Krakau und danach in die polnische Hauptstadt. Er trifft sich dort mit linken und rechten Intellektuellen und versucht, die aktuelle politische Lage des Landes unter die Lupe zu nehmen. Dabei behält Kermani die Endstation seiner Reise – Iran – immer im Blick. So fragt er sich in Polen, warum viele dort typisch persische Namen wie Dariusch tragen. Auf der Reise von Polen nach Litauen und dann nach Weißrussland besucht Kermani ebenfalls die Intellektuellen, macht jüdische Orte ausfindig und spricht in den Dörfern und in den Kleinstädten mit den “einfachen” Menschen. Da man sich im Westen eher weniger für die Ränder Europas interessiert, leistet Kermanis Reisebericht für die Verschiebung des Blicks vom europäischen Zentrum in die sog. Peripherie, die eine komplexe Geschichte und vielfältige Kultur besitzt, eine wichtige Arbeit. Eben diese Verschiebung der Perspektiven ist programmatisch für sein Buch.
Angekommen in der Ukraine trifft er sich in Kiew mit einem Journalisten und Politiker afghanischer Herkunft, Mustafa Najem, der angeblich der Anführer von Maidanprotesten war – „Wir treffen uns 22 Uhr 30 unter dem Denkmal der Unabhängigkeit. Zieht euch warm an, bringt Regenschirme mit, Tee, Kaffee, gute Laune und eure Freunde.“ Dieser Satz von Mustafa war der Anfang der ukrainischen Revolution. Das die osteuropäischen Länder kulturell keine homogene Räume sind, zeigt Kermani in seinem Buch sehr deutlich auf. Die angebliche Homogenität wird oft von den jetzigen Regierungen aufgezwungen, die eine „national-patriotische“ Politik betreiben:
„‘Sprichst du eigentlich noch Persisch?’ fragte ich, und als Mustafa bejahte, entsteht eine kuriose Situation. Ein Afghane, der Ukrainer geworden ist, hält einem Iraner, der Deutscher geworden ist, hundert Meter vom Maidan entfernt das denkbar flammendste Plädoyer für ein starkes Europa – auf persisch.“
Die eindeutige Stärke des Buches ist die Perspektive des Autors, die osteuropäische jüdische Geschichte berücksichtigt, rekonstruiert und aktualisiert. Kermani lässt kaum einen Ort mit jüdischer Vergangenheit aber auch Gegenwart unberücksichtigt – Seien es die jüdischen Viertel in Odessa oder die Massengräber in der Nähe von Minsk oder auch die jüdischen Intellektuellen, die Kermani oft zitiert. Der Autor spannt durch die Rekonstruktion der jüdischen Geschichte den Bogen auf ganz Europa und dieser ist zugleich eine Verbindungslinie zwischen den verschiedenen Ländern.
Navid Kermani reist zur Sperrzone von Tschernobyl, zur Kriegszone in der Ukraine und besucht dort die Städte auf der Front wie Donbass und fliegt später nach Moskau, um auf der Krim landen zu können. Allein diese Reiseroute zeigt die Komik und zugleich die Tragik der aktuellen politischen Lage zwischen Ukraine und Russland. Später fährt er von Krasnodar nach Grosny und von dort aus nach Georgien, nach Tbilissi.
Besonders beeindruckend sind die Kapitel, die über die Reise in Tschetschenien berichten. Hier spielen die Heldengeschichten und die Erinnerungen an die Unabhängigkeitskämpfer eine zentrale Rolle. Überall stößt sich das Reisende Ich auf aktuelle und vergangene Kriege, die mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Die Kriege prägen die Menschen und deren Erinnerungen: Georgien, Abchasien und Südosetien, Aserbaidschan und Armenien mit dem Konflikt im Bergkarabach und die darauffolgenden Pogrome. Im Nord- und Südkaukasus leben mehr als 50 Völker unter der zentralen Macht Russlands, dessen Präsenz in den militärischen Auseinandersetzungen in Georgien, in der Ukraine u.a. nicht zu übersehen ist. Kermani zieht oft literarischen Texte, wie Klassiker heran, um die Gegenden, in denen er sich aufhält, besser verstehen zu können. So folgt er auf seiner Reise mal Kurban Said, mal Isaak Babel oder Giwi Margwelaschwili.
Navid Kermani ist mit diesem Buch eine empfehlenswerte essayhafte Reportage über Mittel- und Osteuropa, über den Kaukasus und über den Iran gelungen, die trotz ihrer teilweise westeuropäischen Blickes, die die lokalen Kontexte nicht vollständig zur Geltung kommen lässt, eine wichtige Arbeit für die Sichtbarkeit dieses Raumes jenseits der Odergrenze leistet.
Von Irine