„Die Sache ist eben die, dass das Ferne und Nächste – für die menschliche Seele, für unser Leben, zwei gleichermaßen unentbehrliche Phänomene sind, die einander nicht ersetzen können.“
Madrid: Sehnsuchtsort mit Sonne und Freiheit. Für Sandro Litscheli bedeutet die Stadt in Naira Gelaschwilis „Ich fahre nach Madrid“ eine ferne Träumerei, die nur gedanklich in Erfüllung geht. In der Novelle, die nach der Veröffentlichung in Georgien 1983 als regimekritisch eingestuft wurde und nun im Verbrecher Verlag erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, entschließt der Protagonist sich dazu, zu verreisen. Mal erzählt er, er wäre auf Geschäftsreise, mal ist es der Besuch der Familie oder ein Urlaub in Madrid. Tatsächlich aber zieht es ihn eigentlich kerngesund unter dem Deckmantel eines Nervenzusammenbruchs in das Krankenhaus eines befreundeten Chefarztes. Hier kann er sich ausspannen und gedanklich auf Reisen gehen.
Naira Gelaschwilis Novelle besteht aus drei Komponenten, die bereits der Klappentext verrät: die Kritik am ansteigenden Arbeitsdruck, die Kritik an totalitären Regimen und gleichzeitig die Kraft der Fantasie, mit der man alle Grenzen überwinden kann. Auch im Krankenbett in Tbilissi kann Sandro die spanische Sonne auf seiner Haut spüren, durch die Gassen spazieren und die Möwen hören. Gleichzeitig ist ihm klar, dass sein “Urlaub” nach dieser einen Woche ein Ende haben und der Schreibtisch ihn wieder rufen wird. Trotz harter Arbeit möchte er sein Leben nicht eintauschen:
„In einem anderen Land hätte er es doch nicht lange ausgehalten und das Leben dort nicht genießen können.“
„Ich fahre nach Madrid“ – schon der gewählte Titel weckt so viele Erwartungen und Bilder, dass man fast enttäuscht sein will, wenn dieses schmale Büchlein mit gerade einmal 90 Seiten (inkl. Nachwort des Verlegers Jörg Sundermeier) vor einem liegt. Doch auch hier liegt der Reiz in der Fantasie des Lesers: Fragmentartig erzählt die Autorin als kommentierende Erzählerin von der einen Woche der Erholung und lässt dabei wohl bewusst auch Lücken entstehen. Naria Gelaschwilis Novelle ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie hinter wenig Text sehr viele Aussagen stehen können und nicht ohne Grund zählt die Autorin zu den wichtigsten Schriftstellerinnen Georgiens.
- Gebundene Ausgabe: 120 Seiten, 16 € (D)
- Verlag: Verbrecher; Auflage: 1 (20. Februar 2018)
- Übersetzung: Mariam Baramidze, Lia Wittek
- ISBN-13: 978-3957323088
- Originaltitel: Mivemgzavrebi Madrids
Annika