Der Miniatureffekt – Perspektive durchs Vergrößerungsglas

twarz_plakatMałgorzata Szumowska ist kein unbekannter Name in der europäischen Filmlandschaft und spätestens seit ihrem Erfolg mit Body/Ciało – der auf der Berlinale 2015 den Silbernen Bären gewann – ist die Regisseurin auch dem deutschen Publikum ein Begriff. Mit ihrer neuesten Produktion Twarz – was am ehesten mit ‘Visage’ übersetzt werden kann – kann Szumowska an diesen Erfolg anknüpfen, denn für die absurde und zugleich tragische Geschichte über einen jungen Mann, der beim Bau der höchsten Christusstatue der Welt einen schweren Arbeitsunfall erleidet, erhielt sie auf der diesjährigen Berlinale erneut den Silbernen Bären.

Ein kleines rotes Auto rast in einer idyllischen Landschaft über eine leere Landstraße, die Musik aus dem Auto wird lauter je näher es kommt und will nicht so recht ins Bild passen: laut dröhnender Heavy bzw. Black Metal. Wer sich dabei an den Dokumentarfilm Full Metal Village über das Dorf Wacken, welches sich Jahr für Jahr in eine Hochburg der Metalfans verwandelt, erinnert fühlt, liegt gar nicht so falsch. In der nächsten, idyllisch anmutenden Szene – eine Überfahrt von einem zum anderen Ufer eines Sees – weht der Wind durch die langen Haare des jungen, gut aussehenden Mannes, der eine Jeansjacke mit zahlreichen Aufnähern verschiedener Metalbands trägt.

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Diese ersten Szenen lassen bereits die Komik, die Absurditäten und die Kontraste erahnen, die den Film prägen und was fast schon typisch ist für Szumowskas Produktionen. Wer ihre Filme kennt, weiß aber auch, dass Tragik ebenso eine Komponente ist, die nicht fehlen darf und die entsättigten Farben, in denen der ganze Film gehalten ist, deuten bereits darauf hin, dass hier keine Idylle, sondern etwas Verhängnisvolles gezeigt wird – oder vielleicht auch einfach nur die Realität, denn die ist oft auch eher grau, statt bunt.

Der junge Mann mit den langen Haaren, Jacek sein Name und gespielt von Mateusz Kościukiewicz, der unter anderem in Szumowskas W imię … (2013) Teil des Casts war, Szumowskas Ehemann ist und einer der Produzenten von Body/Ciało, lebt in einem kleinen Dorf irgendwo in Polen. Er hat eine Arbeit, eine Freundin, liebt seinen Hund und die Natur, geht wie alle anderen sonntags in die Kirche und dennoch ist er der Außenseiter im Dorf und in der Familie: wegen seines Aussehens, wegen der Musik, die er hört, wegen seines Verhaltens. Aber als solcher wird er akzeptiert, als Anderer. Und ihm ist es egal, was die Dorfbewohner über ihn denken.

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Seine Freundin Dagmara, gespielt von Małgorzata Gorol, liebt ihn wahrscheinlich genau deswegen, wegen seiner Verrücktheit, seiner Andersartigkeit und so tanzen die beiden schon mal mehr als ausgelassen zu Hits der 90er in der Dorfdisko oder reiten in vollem Gallopp auf einem weißen Schimmel im Sound von L’amour Toujours von Digi D’Agostino über die polnischen Felder. Alles ist super, bis Jacek einen falschen Schritt macht, im wörtlichen Sinne, und abstürzt – mitten in die Jesusstatue hinein.

Die höchste Christusstatue der Welt steht momentan in Polen. Sie wurde Ende 2010 fertiggestellt und fast ausschließlich durch Spenden finanziert. Diese Tatsache setzt Szumowska fiktiv im Film um. Jacek ist einer der Arbeiter, der am Bau der Statue mitwirkt und dabei einen folgenschweren Arbeitsunfall erleidet. Er stürzt rücklings vom Gerüst, in den Hohlraum der Figur hinein, gute 10 bis 15 Meter in die Tiefe – und überlebt. Ein Moment der Absurdität, obwohl der Schock tief sitzt. Die Tragik des Ganzen: Jacek verliert dabei sein Gesicht. Dabei könnte man meinen, er hat Glück im Unglück, denn er bekommt erfolgreich ein neues transplantiert – auch dies beruht auf einer wahren Begebenheit. Doch zurück zu Hause zeigt sich der wahre Verlust, denn Jacek hat viel mehr verloren als sein Gesicht, und zwar seine Identität. Auf einmal ist er tatsächlich der Außenseiter im Dorf. Seine Freundin will nichts mehr mit ihm zu tun haben, im Lebensmittelladen wird er mit einer Mischung aus Angst und Abscheu betrachtet, selbst seine eigene Mutter will ihn nicht mehr erkennen und meint er sei vom Teufel besessen. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an den Priester im Dorf, ob man nicht einen Exorzismus … Nun ja, er würde da jemanden kennen …, meint der Priester.

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Es mutet aberwitzig an – abgesehen von seinem Großvater scheint niemand mehr in ihm den Jacek von früher zu sehen. Dabei hat sein Wesen sich keinesfalls verändert. Wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, führt uns Szumowska vor Augen, wie oberflächlich die Menschen sind, wonach sie urteilen, wie scheinheilig sie sich geben. So allgemeingültig wie es klingt, ist es auch. Überall auf der Welt könnte sich ein ähnliches Szenario abspielen. Für diesen Eindruck sorgt nicht zuletzt der Miniatureffekt, der bei vielen Bildern im Film eingesetzt wird. Die Bildränder werden bewusst unscharf gelassen, sodass das Gezeigte wie eine Miniaturlandschaft oder wie einem Puppenhaus entnommen aussieht. Außerdem vermittelt der Miniatureffekt ein besseres Gefühl für Jaceks Perspektive, denn das ist seine Sicht auf die Umgebung nach dem Unfall.

Die Geschichte ist also universell, aber der Kontext bleibt spezifisch polnisch. Das sei ihr Anspruch, so Szumowska während der Berlinale. Die konkrete “Verortung” in Twarz sind zum einen die auf Tatsachen beruhenden Umstände wie der Bau der Christusstatue oder die Transplantation des Gesichts, zum anderen die gezeigten Traditionen, wie z.B. das Brechen von Oblaten an Weihnachten, die starke und zentrale Rolle der katholischen Kirche oder Probleme wie Alkoholismus und Antisemitismus. Der Film zeigt also vor allem ein realistisches Bild von Polen, ohne zu beschönigen oder ins Lächerliche zu ziehen. Obwohl einige Szenen in ihrer Absurdität durchaus komischen Charakter haben. Seien es die Ärzte, die kurz nach der Operation Jaceks Gesicht fotografieren und sich gegenseitig dabei loben, wie gut sie genäht hätten oder die magere Kollekte, die eigentlich für Jaceks Medikamente gedacht war, aber in der Hosentasche des Priesters verschwindet. Eben darin liegt Szumowskas Stärke: den Irrwitz des Alltags festzuhalten, ohne sich darüber lustig zu machen. Sie zeigt einfach die Realität. Und die ist oft schon absurd genug.

von Elisabeth

 

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