„Ich brabble eine Klage, dumm und kindisch, da ich doch weiß, dass die Wörter nichts auslöschen können, dass meine Sprache nichts mehr bedeutet, dass ich fern bin und dass dieses fern meine Heimat und mein Schicksal geworden sind.“
„Die Welt ist ein grosser Flipper“ (Tempo), ein Flipper, bei dem die Menschen wie die Kugeln hin und her geschleudert werden. Der heute in Frankreich lebende bosnische Autor Velibor Čolić hat mit seinem Roman seiner eigenen Biografie eine Stimme gegeben. Als Flüchtling und Deserteur gelangt der Erzähler 1992 von Sarajevo nach Rennes. Er ist 28, Schriftsteller und leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, will das „Vergessen üben“ und seine Vergangenheit hinter sich lassen, um in Frankreich ein neues Leben zu beginnen. Der Protagonist steht zwischen Schmerz und Leid, zwischen den furchtbaren Erinnerungen des Krieges und dem Wunsch, als Autor auch in seiner neuen Heimat Fuß zu fassen. In Rennes wird er zum „Analphabeten“, der mit anderen Immigranten Französisch lernt. Seine Intention ist auch eine Bittere: „Ich muss so schnell wie möglich Französisch lernen. Dann wird mein Schmerz für immer in meiner Muttersprache bleiben.“
Velibor Čolićs episodenhafte Erzählung schwankt zwischen Ironie und Zuversicht. Sein Erzähler lebt mit Humor in den winzigen Behausungen in Rennes, Paris und Straßburg und trifft dabei auf Menschen, die in einer ewigen Warteschleife leben. Nach der Veröffentlichung eines neuen Buches flüchtet er sich erneut in Richtung Osten und verbringt einige Zeit in Budapest, mit dem er sich näher verbunden fühlt als das westliche Paris oder Straßburg, dennoch wird Frankreich das neue Zuhause des Protagonisten, wie auch das des Autors Čolić, der mittlerweile auf Französisch schreibt. Neben der Identitätsfindung des fiktiven Schriftstellers steht auch die Frage nach dem Schreiben über die Vergangenheit im Mittelpunkt: „Man hat Bücher geschrieben, nach dem Gulag, nach Hiroshima, nach Auschwitz, Mauthausen … Kann man nach Sarajevo schreiben? Um diese Zerstörung zu beschreiben, die etwas Unwirkliches hat, um das Leuchtende und Heilige des Opfers darzustellen?“
„Die Welt ist ein grosser Flipper“ ist ein schmales Buch mit viel Inhalt. Nicht nur verarbeitet Čolić hier seine Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien, sondern auch den Alltag als zeitweise ausgestoßener Immigrant. Themen, die hoch aktuell sind und trotz der 25 Jahre Zeitunterschied auch heute ohne Frage ähnlich beschrieben werden.„Mir wird allmählich bewusst, dass ich der Flüchtling bin. Der Mann ohne Papiere und ohne Gesicht, ohne Gegenwart und ohne Zukunft.“, schreibt Čolićs Alter Ego im Roman und zeichnet damit das Bild der Perspektivlosigkeit der vielen Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und sich an anderer Stelle ein neues Leben aufzubauen.
- Gebundene Ausgabe: 224 Seiten, 20 € (D)
- Verlag: Tempo (12. September 2017)
- Übersetzung: Claudia Steinitz
- ISBN: 978-3455001341
Annika