Immer wieder stoßen wir auf spannende Titel, deren Handlung sich im osteuropäischen Raum abspielt, deren Autorinnen und Autoren aber nicht aus diesem stammen. Natürlich möchten wir euch auch hier einen Einblick in die vielfältigen Erscheinungen geben und freuen uns, euch mit unserer ersten Literaturauslese einige Romane zu präsentieren, die uns in den letzten Monaten begleitet haben:
Aus dem wunderbaren Berliner Verlag Matthes & Seitz stammt das Buch „Ein russischer Roman“ des bekannten französischen Schriftstellers Emmanuel Carrère. Der Autor geht in seinem Roman seiner Familiengeschichte mütterlicherseits nach und landet bei seinem Großvater, der 1898 in Tbilissi, Georgien geboren wurde. Georges Zurabischwili verschwand allerdings 1944 spurlos in Frankreich. Die fünfzehnjährige Mutter des Autors wuchs danach ohne ihren Vater auf und diese Tragödie wurde in ihrer späteren Familie zum Tabuthema erklärt. Eben dieses Schweigen will Carrère mit diesem Romanprojekt brechen, indem er sich der eigenen Familiengeschichte stellt, die russische Sprache lernt und in die tiefste Provinz Russlands reist. Kotelnitsch heißt der Ort, der dem Autor den Schlüssel zu den Geheimnissen der Familie geben soll: „Kotelnitsch ist für mich der Ort, an dem man sich aufhält, wenn man verschwunden ist.“ Mit Grammatikübungen, Tschechow und Lermontow entdeckt er den Draht zur russischen Sprache wieder, die er als Kind in der Familie hörte und selbst auch sprach. Die Liebesgeschichte zwischen dem Autor und Sophie zieht durch das ganze Buch und führt den Lesern andererseits die Komplexität der Beziehungen auf eine besondere Weise vor Augen.
Eine dunkle Burg inmitten der wilden Karpathen ist das Setting des Romans “Karpathia” (Frankfurter Verlagsanstalt) des französischen Schriftstellers Mathias Menegoz. 1833 reist der ungarische Graf Alexander Korvanyi mit seiner jungen Frau Cara von Österreich nach Transilvanien, um am Rand des habsburgischen Reichs das Lehnsgut seiner Familie zu verwalten und wiederzubeleben. Doch die beiden erwartet alles andere als Willkommensgrüße. Das Verhältnis zu den ansässigen Magyaren, Walachen und Sachsen ist schwierig, das prächtige Anwesen ist mittlerweile verfallen und dem Paar schlägt von Anfang an ein großes Misstrauen entgegen. Als dann auch noch ein Junge aus dem Lager der umher reisenden Zigeuner (sic!) verschwindet, nimmt das Unheil seinen Lauf …
Spannungsgeladen und atmosphärisch entführt uns Menegoz` Debütroman “Karpathia” in die mittelalterliche Welt Transilvaniens. Schon das Cover verspricht genau die düstere Stimmung, die die Leser erwarten können. Für uns definitiv ein Jahreshighlight und sehr zu empfehlen!
Julian Barnes ist einer der wichtigsten zeitgenössischen britischen Autoren und hat mit seinem neuesten Roman “Der Lärm der Zeit” (Kiepenheuer & Witsch) einen Roman veröffentlicht, der die Leser mitten in die Dreißiger Jahre bis hin in die Zeit des Kalten Krieges wirft. Dreh- und Angelpunkt ist der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch, dessen Biografie für den Roman künstlerisch bearbeitet wurde. Nachdem dessen Uraufführung seiner Oper “Lady Macbeth von Mzensk” zu einem Skandal führt – Stalin verlässt vorzeitig das Theater und das Stück landet auf dem Index – wartet Schostakowitsch jeden Tag auf seine Verhaftung, zum Glück vergeblich, denn seine Musik soll noch bis in die 70er-Jahre der westlichen Welt die sowjetische Kunst näher bringen. “Der Lärm der Zeit” behandelt die Frage nach der Kunst in der Politik. Wie weit darf die Kunst gehen? Wie weit darf sie sich beeinflussen lassen? Leider wird die Handlung um Schostakowitsch schnell “aberzählt”, die Figuren erscheinen blass und wirklicher Spaß am Lesen kommt nicht auf. Trotz der wenigen Seiten (256, um genau zu sein) zieht sich das Buch doch ziemlich. Schade!
Schauplatz des Romans “Ein Gentleman in Moskau” von Amor Towles (List) ist das berühmte 5 Sterne-Hotel Metropol direkt am Platz des Geschehens der russischen Hauptstadt. Hier spielt sich das komplette Leben des einstigen Lebemanns Graf Rostov ab, nachdem dieser aufgrund eines reißerischen Gedichtes 1922 zu lebenslangem Hausarrest verurteilt wird. Über 30 Jahre verbringt der sympathische und liebenswerte Rostov in einem Hinterzimmer im sechsten Stock und wird zur Seele des Hauses. Als Hilfskellner und Vertrauter einiger wichtiger Persönlichkeiten prägt er das Leben seiner Mitmenschen und das, obwohl ihm das Russland vor der Tür verwehrt bleibt. “Ein Gentleman in Moskau” ist ein Schatz! Towles entwirft eine kleine Welt im Hotel Metropol, die den Leser zwar ebenfalls einschränkt, gleichzeitig aber so viele interessante Charaktere und Wendungen präsentiert, dass man die Räumlichkeiten rund um das Restaurant “Piazza” oder “Bojarski”, die Näherei Marinas oder den Barbierraum nicht mehr verlassen möchte. Daumen hoch für dieses großartige Buch, das man nicht mehr aus den Händen legen möchte!
von Annika & Irine