„Mittlerweile kotzen mich alle hier an. Sowohl die Nachbarn als auch meine Familie.“
Lettland, 1991: Mit der erlassenen Resolution „zur Wiederherstellung der staatsbürgerlichen Rechte lettischer Bürger und Grundprinzipien der Naturalisierung“ werden auf einen Schlag mehr als 700.000 lettische Einwohner zu Nichtbürgern, die in ihrem Pass die Aufschrift „ALIEN´S PASSPORT“ erhalten. Auch die Familienmitglieder der minderjährigen Nastja fallen unter dieses neue Gesetz und werden durch ihre russische Herkunft zu Staatenlosen. Selbst fast 50 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gilt die Russisch sprechende Bevölkerung Lettlands immer noch als die Bevölkerung der Besatzer und wird daher aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Auch Nastja, ihre Mutter und ihr Stiefvater werden von den Nachbarn angefeindet und entschließen sich dazu, Riga den Rücken zu kehren und nach Deutschland auszuwandern. Doch in dem kleinen Städtchen N. in NRW im Notheim angekommen, realisieren die drei schnell, dass ihre Heimat nicht so schnell zu ersetzen ist. Zwischen Notunterkunft und Sprachschule, Arbeitsamt und Abendschule, lässt die Autorin Anna Galkina Nastja in „Das neue Leben“ (Frankfurter Verlagsanstalt) über mehrere Jahre hinweg von den Problemen in Deutschland erzählen und ein Urteil über ihre neue Heimat fällen:
„Im Städtchen N. weiß jeder, dass unterschiedliche Glaubensgruppen in verschiedenen Notunterkünften untergebracht werden sollten. Denn Nächstenliebe und Toleranz erstrecken sich meistens nicht auf Fremdartige. […] Ich habe mir das alles ein wenig anders vorgestellt. Immerhin hieß es, dass wir von der deutschen Regierung im Rahmen eines Spezialabkommens für jüdische Kontingentflüchtlinge `eingeladen´ würden. […] Als hätte man einen Sechser im Lotto gewonnen. Aber das war von kurzer Dauer. Denn so richtig scheint sich hier keiner über unsere Ankunft zu freuen.“
Mehrere Jahre verbringen Nastja und ihre Eltern in der Notunterkunft gemeinsam mit anderen Familien aus der ehemaligen Sowjetunion und Zentralasien. Sie nehmen an Integrations- und Sprachkursen teil, erhalten die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung und sind dennoch nie wirklich ein Teil der deutschen Gemeinschaft. Die engen Freundschaften und die erste Liebe Nastjas entstehen mit den Nachbarn direkt im Notheim. Die illustre Runde rund um Nastja und ihre Freunde Grischa und Max wird in „Das neue Leben“ lebendig und mit viel Humor geschildert. Nastja selbst ist eine selbstbewusste und mutige Protagonistin, die trotz ihres Heimwehs mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf ihre Situation blickt. Als junge Stimme haucht Galkina ihren Figuren den nötigen Witz ein, um auch schwierige Situationen zu überstehen. So gibt es für Nastja immer einen Ausweg, beispielsweise, als sie ungewollt schwanger wird oder ihren eigentlichen Berufswunsch auf dem Arbeitsamt nicht bewilligt bekommt. Nastja blickt nach vorne – zwar hinterfragt sie immer wieder auch den Wechsel ihres Zuhauses, steht aber als junge Stimme für eine neue Generation interkultureller Frauen und Männer, die sich eine neue Heimat aufbauen. Auch Anna Galkina kam in den neunziger Jahren mit ihrer Familie aus Moskau nach Deutschland und sicher steckt in Nastja auch einiges von der Autorin. Wer deren Vorgeschichte in Moskau lesen will, kann zu Anna Galkinas Debütroman „Das kalte Licht der fernen Sterne“ greifen, der im letzten Jahr ebenfalls in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen ist und auf der Hotlist 2016 stand.
Heimat, Integration, Familie – „Das neue Leben“ ist eine humorvolle Erzählung, der es manchmal etwas an Tiefgründigkeit mangelt. Anna Galkina erzählt ihre ganz eigene Flüchtlingsgeschichte, in der der Osten auf den Westen trifft – und umgekehrt, denn, egal woher die Protagonisten auch kommen, eines haben sie alle gemeinsam: den Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit.
- Gebundene Ausgabe: 224 Seiten, 20 € (D)
- Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt; Auflage: 1 (30. August 2017)
- ISBN-13: 978-3627002428
Annika