Das Alte muss dem Neuen weichen. Einer der wichtigsten sowjetischen Häfen in der kirgisischen Stadt Balykčy wird niedergerissen. An seiner Stelle entsteht moderner Kurort mit Freizeitpark. Jedoch: Sind alle Bewohner_innen der Stadt mit diesem Wandel einverstanden? Allen voran – die treueste Seele des Hafens – ein ehemaliger Admiral?
von Natalia Sobczuk

Der Dokumentarfilm „Admiral Tchumakov“ (Orig.: L’Amiral Tchoumakov, 2021) beginnt genauso widersprüchlich wie die Geschichte des Ortes selbst. Die ersten Einstellungen zeigen kirgisische Seelandschaft mit besonderen Extras: leerstehenden Schiffswracks. An der Küste des Yssykköl-Sees scheint das Wasser langsam die metallischen Seemonster wegzuspülen. Die von der Welt vergessenen Wracks sind verrostet und von Algen umhüllt. Zum anderen liegen die zertrümmerten und von Gräsern durchwachsenen Maschinen auf dem Land.
Durch diesen Blechfriedhof spaziert ein alter Mann. Er trägt eine Marineuniform, schwer von zahlreichen Auszeichnungen und schaut melancholisch in die Ferne. Er benennt die Schiffe und beschreibt ihre Funktion fachgerecht und so vermittelt den Eindruck, sich hier gut auszukennen. Der Admiral erzählt mit vollem Stolz von seiner glorreichen Vergangenheit und dem Dienst im Hafen, das alles im starken Kontrast zu den Bildern. Schon taucht der Baustellenleiter auf, die ersten Flachbagger befahren das Gelände. Dort, wo einmal das sowjetische Militär glorreich waltete, soll jetzt ein Badeparadies entstehen.
Der 2020 gedrehte Dokumentarfilm, der in der Sektion „Viel Neues im Osten“ auf dem FilmFestivals Cottbus 2021 zu sehen war, stellt eine Persönlichkeit vor, die den Geist einer vergangenen Epoche widerspiegelt. Das Bild und die Erzählung sind durch intensive Melancholie durchdrungen, da die Zuschauer_innen einen Kapitän ohne sein Schiff, ohne seine Flotte und bald auch ohne seinen Hafen begleiten.
Wir lernen einen inspirierenden Menschen kennen, der ein enormes Durchhaltevermögen, Stärke und Lust am Leben aufweist. Boris Vasiljevič Čumakov ist 84 Jahre alt und präsentiert sich immer von seiner besten Seite – in Uniform und mit Admiralsmütze. „Es passiert häufiger, dass Menschen aus dem Publikum mir nach einer Vorführung die Geschichten ihrer eigenen Eltern oder Großeltern erzählen. Der Admiral ist eine warmherzige Figur, die Empathie in Menschen weckt,“ erzählt der Regisseur Laurier Fourniau.
Laurier Fourniau ist ein junger französischer Regisseur, Drehbuchautor, und Kameramann. Aufgrund der beruflichen Beschäftigung seiner Eltern, verbrachte er seine Kindheit Großteils im Ausland, unter anderem in Usbekistan, woher auch sein Interesse an Zentralasien stammt. Vom Admiral erzählte Laurier seine Mutter, die am Französischen Institut für Zentralasienstudien in Bischkek arbeitet. Nach Balykčy reiste der Regisseur erstmals rein touristisch, während einer Wanderung durch den alten Hafen erinnerte er sich an seinem zukünftigen Hauptdarsteller:
„Als ich das erste Mal vor seiner Tür stand, musste ich eine halbe Stunde warten, bis er sich fertig angezogen hatte und bereit war, mich zu empfangen. Dann öffnete er die Tür und rief: V pered, gospoda oficery! (Los geht’s, Herren Offiziere!). Seine Art und Verhaltensweise sind enorm kinematografisch, er trägt die Dramaturgie in sich, als wäre er dafür geboren, vor der Kamera zu stehen. Von dem ersten Moment wussten wir beide, dass wir uns gemeinsam auf dieses Dreh-Abenteuer einlassen müssen.“

In der Hafenstadt ist der Mann längst eine Legende. Auf dem Weg zum Markt wird er von allen Passant_innen herzlich begrüßt. Auch über die Leinwand gewinnt er rasch die Sympathie der Zuschauer_innen, indem er seine Nachbarinnen beim Morgensport mit einem der bekanntesten russischen Lieder Oči čërnye besingt:„Schwarze Augen, leidenschaftliche Augen! Strahlende und wunderschöne Augen! Wie ich Sie liebe! Wie ich Sie fürchte!“ – ruft der Admiral und die Nachbarinnen applaudieren von ihren Balkonen. Die Stimmung kippt dennoch rapide. Sekunde um Sekunde vergeht die Zeit. Zahlreiche Metapher für das Verfließen der Zeit gehört zu einem der Hauptmotive des Films. Neben den algenbedeckten, rostigen Seemonster beobachten wir ein Wechsel der Jahreszeiten – die Blumen verblühen, die Baume fangen an Früchte zu tragen, die Welt verändert sich, doch der Admiral bleibt trotz jeglicher Hürden standhaft.
Als Nächstes erhält Čumakov einen Anruf aus Moskau. Er wird gebeten, bei den Vorbereitungen einer Enzyklopädie der sowjetischen Marine seine Hilfe zu leisten. Der Admiral ist stolz, ein Teil der sowjetischen Geschichte zu sein und möchte sie mit der Welt teilen. Hochmotiviert stöbert er durch sein heimisches Archiv und blättert durch die verstaubten Bücher. Er ist davon überzeugt, dass selbst seine Wohnung einer Kajüte ähnelt, dabei schlägt er auf die Schiffsglocke, die dekorativ an die Wand hängt.
Das Besondere an dem Film ist es, dass er die nostalgisch-traurige Geschichte eines alten Admirals zeigt, der personifiziert, was 30 Jahre nach dem Untergang der UdSSR von einem „Sowjetmenschen“ übriggeblieben ist. Doch der Film ist reizend und charmant, die Lebenslust des Hauptdarstellers weckt in den Zuschauer_innen Hoffnungsgefühle oder sogar Trost. Admiral Čumakov ist ein Vorzeigebeispiel dafür, dass auch der größte Lebenswandel zu überwinden ist.
Quelle: Fourniau, Laurier und Alberola, Arnaud: L’Amiral Tchoumakov (Admiral Tchumakov). Belgien, Frankreich, 2021, 64 Min.