Estland als Spielball: Ilmar Taskas „Pobeda 1946“

514EAAcoI-LEstland, 1946: Das Land ist besetzt, der Geheimdienst ist überall. Unwissentlich wird ein sechsjähriger Junge durch die Freundschaft zu einem Agenten in Ilmar Taskas „Pobeda 1946“ (Kommode Verlag) zum Spitzel seiner eigenen Familie.

„Pobeda 1946“ schildert den Alltag einer Gesellschaft, die von Verrat und Misstrauen geprägt ist. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat Stalin das Kommando über Estland übernommen. Agenten sind auf der Suche nach jedem, der sich kritisch gegenüber dem System äußert. Jeder noch so harmlos gemeinte Spruch kann zur Verhaftung führen und nicht einmal der oberste Parteikader ist sicher. In dieser Zeit  beschreibt aus verschiedenen Perspektiven das Leben in Tallinn.

Der Mann, seine Frau, ihr Kind, der Junge, und der Agent, der den herrschaftlichen Pobeda fährt, stehen durch ihre Namenlosigkeit für eine ganze Bevölkerung. Dann ist da noch Johanna, eine ehemalige Opernsängerin, deren große Liebe Alan hinter dem Eisernen Vorhang in England lebt und als Radiosprecher für BBC arbeitet. Sie sind die einzigen Hauptfiguren, die einen Namen tragen und damit wiederum ein individuelles Schicksal darstellen. Sie alle verbindet ein unterdrückendes und menschenverachtendes politisches System, in dem selbst unschuldige Kinder zum Spielball werden.

Ilmar Taska arbeitet als Produzent, Regisseur und Drehbuchautor und präsentiert mit „Pobeda 1946“ sein Literaturdebüt, das aus der Kurzgeschichte „Pobeda“ entstand, die 2014 mit einem estnischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde. In seinem eindrucksvollen Roman schildert er eine der dunkelsten Kapitel seines Landes und lenkt den Blick bewusst auf die mutigen Außenseiter der Gesellschaft, die die Zustände in ihrer Heimat nicht hinnehmen wollen und im Untergrund agieren. Eine große Rolle dabei spielt natürlich immer die Angst vor der Aufdeckung ihrer Aktionen und Gespräche, vor der Deportation nach Sibirien oder vor dem Austausch mit immigrierten Russen, die ihre Wohnungen einnehmen und durch ihre Anwesenheit Entstehung der estnischen Gemeinschaft unterbinden sollen. Die permanente Bedrohung ist stets spürbar. Taskas Figuren folgen dabei ganz intuitiv dem Geschehen: Der Junge, der aus Freude an dem teuren Auto „Detektiv in der eigenen Familie spielt“ und dem Onkel Dinge verrät, die für seine Eltern zur Gefahr werden – die Künstlerin, die eigentlich keine politischen Interessen verfolgt und lediglich ihrer Liebe folgen will, die Mutter, die aus Sehnsucht nach Frieden und Ruhe eine Affäre mit dem feindlichen Agenten beginnt…

„Pobeda 1946“ ist eine literarische Mischung aus verschiedenen Genres. Wir finden so Episoden eines Dramas, eines Spionagethrillers, eines Familien- und Liebesromans, die sich spielerisch ergänzen. Hier und da hätte der Roman allerdings etwas unvorhersehbarer sein können, dennoch blieb bei mir der Wunsch nach dem Lesen, den Figuren noch einmal später zu begegnen – vielleicht ein Jahr oder doch mehrere Jahrzehnte danach? Ein „Pobeda 1986“ kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs?

  • Gebundene Ausgabe: 300 Seiten, 19,99 € (D)
  • Verlag: Kommode; Auflage: 1 (25. September 2017)
  • Übersetzung: Cornelius Hasselblatt
  • ISBN-13: 978-3952462645
  • Originaltitel: Pobeda 1946

Annika

 

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