Maxim Gorkis Čelkaš (Челкаш): Geld oder Gott

UnbenanntDass Bücher nicht nur geschichtliche Überlieferungen mit fiktiven Narrativen beinhalten können, sondern selbst zu geschichtlichen Objekten avancieren, sehen wir in der vorliegenden Ausgabe. Der Herausgeber des 11. Heftes, aus der Reihe der Neuen Russischen Bibliothek, zum Beispiel, war ein gewisser Prof. Dr. Wolfgang Steinitz. Dieser hinterließ als bedeutender Linguist und Ethnologe wichtige Erkenntnisse über die in Sibirien ansässige Volksgruppen. Ebenso darf der Editor des Heftes, Bruno Lewin, als bekannter Japanologe und Linguist, der in seiner früheren Schaffensphase sich ebenso mit dem Russischen beschäftigte, nicht in Vergessenheit geraten. Aber auch die Verlagsgeschichte dieser vorliegenden Ausgabe vermittelt uns ein „Stück“ deutsch-deutscher Teilungsgeschichte. Der 1945 gegründete Verlag produzierte und versorgte alle DDR-Bezirke mit Schulbüchern und Fachliteratur. Nach der Wiedervereinigung und Wende in Deutschland fusionierte der Volk und Wissen Verlag dann mit Cornelsen.

Auf das dünne Heft, mit dem bilingualen Titel wurde ich in der Universität Potsdam aufmerksam, als ich es auf dem Fensterbrett, der weggeworfenen Bücher im Slavistik Institut, sah. Dort werden regelmäßig entrümpelte Buch-, Film-, und Flyerkontingente Studierenden wie mir, kostenlos zur freien Mitnahme, zur Verfügung gestellt.

Zum Buch:

Auf der Suche nach dem Helden unserer Geschichte, kommen wir nicht um zwei bedeutende moralische Fragen umhin:

Wer war er nun? Oder vielmehr, wie sollte er sein?

Die Begebenheiten um Čelkaš könnten mit einem einfachen Gaunerdramer umrissen werden. Sie könnten oberflächlich mit Beschreibungen industrieller Arbeitsvorgänge des nahenden 20. Jahrhunderts, mit Normvorstellungen des Bauern-Überlebens beschrieben, gar mit Leid gespickt sein. Doch die von Maxim Gorki geschaffene Narration beinhaltet weit mehr als die bloße Bestandsaufnahme eines beginnenden 20. Jahrhunderts. Beleuchtet viel mehr als Blickwinkel Verlierender.

Denn verloren haben die von der Geschichte berührten nicht nur innerhalb der sie unterdrückenden Klassengesellschaft; verloren haben die Charaktere ebenso durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die die wirtschaftliche Industrialisierung von ihnen fordert. Kräfte zehrend, Freiheit raubend, Leben nehmend.

Wenn die tragische Figur des Čelkaš einen Menschen darstellen soll, der durch Trug und List zu seinem Recht kommen will, dann kann das lediglich die Hälfte der Geschichte sein. Čelkaš fungiert als Spiegel gesellschaftlicher Freiheiten des vorrevolutionären Russlands, im ärgsten Sinne. Recht spät weiht Gorki seine Lesendenschaft in die persönlichen Umstände des Hauptcharakters ein. Der Einstieg der Handlung beginnt bereits im Konflikt. Auf der einen Seite erscheint geschäftig-turbulentes Hafentreiben. Schiffe treffen ein, werden beladen. Pausenklingel hier, Pausenbrote dort. Menschen wimmeln klein wie Staubflocken umher, bemüht ihre Arbeit auszuführen. Auf der anderen Seite erscheint Čelkaš. Ausgemergelt, schmutzig, doch ausgeruht. Er ist inzwischen für seinen schlechten Ruf bekannt. Schlimmer noch, dieser hallt ihm nach. Ein gemeiner Dieb soll er sein, Gorkis Čelkaš. Ein kaltblütiger obendrein. Doch fehlt ihm ein Verbündeter für den nächsten großen Coup. Schnell findet er diesen in Gavrila, einem starken, jungen, blauäugigen Bauernburschen, kerngesund und arbeitswillig. Er ist es, der sein Interesse erweckt. Eingestellt denkt Gavrila, er würde es mit einem Fischer zu tun haben. Zusammen fahren sie zwar auf See, doch soll alles anders kommen…

Viele Male dem nahen Tod entkommen, wenden sich die Machtverhältnisse zwischen den Partnern Čelkaš und Gavrila. Alleinstehender Berufsganove versus junger, Landbesitzender Familienvater. Freiheitsliebender versus guter Christ. Gorki lässt beide leben am Ende seiner Erzählung, doch die Frage nach dem moralischen Umgang mit dem Hilfsmittel Geld und der daraus käuflichen Freiheit, lässt er offen. Das Publikum fällt sie. Unser Held kann entweder jemand sein, der einer Eintagsfliege gleicht oder für Geld tötet und zu Gott betet.

Als das Werk Gorkis 1894 erschien, befand sich das damalige Russische Reich in einer vorrevolutionären Stimmung, die in den Jahren zwischen 1905-1907 ihren Ausdruck fand. Die Russische Revolution und die damit verbundenen politischen Aktionen, sollten das geltende System, zugunsten eines Arbeiter- und Bauernstaates, ablösen.

Wie eine nicht verblassende Momentaufnahme skizzierte Gorki realitätsgetreu durch Čelkaš, tägliche Überlebenskämpfe von Menschen, die bis heute prekären Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind. Die bis heute Ausbeutung erfahren und deren Freiheitsanspruch zugunsten grauenvoller Not unbeantwortet bleibt.

Die im Slavistik-Institut der Universität Potsdam gefundene Kurzgeschichte führte von der zufälligen Lektüre zu eigenen revolutionären Vorstellungen, auf gerade einmal 67 fundiert-prägnanten Seiten. Wer die eigenen Perspektiven über Gerechtigkeit, Freiheit und Geld weiter austarieren möchte, dem sei die Lektüre des russischen Klassikers wärmstens empfohlen.

von Amanda

Maxim Gorki (1948): Tschelkasch. Berlin/Leipzig: Volk und Wissen. Steinitz, W. (Hrsg.) Neue Russische Bibliothek, Heft 11. 

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