Wenn der Traum zum Albtraum wird: „Kukolka“ von Lana Lux

9783351036935„Ich beneidete die anderen Mädchen […] nicht lange für ihr tolles früheres Leben mit Eltern, Schule, Freunden und einem Zuhause. Mir war nämlich klargeworden, dass ich die Einzige war, die das hier überleben konnte. Ich war nicht so eine gefallene Püppi. Ich war schon immer hier unten gewesen.“

Die Erkenntnis kommt spät, aber sie beschreibt Samiras Leben sehr genau – sie war schon immer ein Teil des äußeren Rands der Gesellschaft. Keine Eltern, aufgewachsen im Heim, von den anderen Kindern gemobbt und als Zigeunerin beschimpft, von ihrem “Retter” Rocky zum Betteln und Klauen gezwungen, später von ihrem “Freund” in die Prostitution getrieben. Wahrlich nicht die Mitte der Gesellschaft, aber von der Protagonistin so kindlich, so naiv, so normal beschrieben, dass es schmerzt. Samira ist erst sieben Jahre alt, als sie aus dem Heim abhaut, 15 als sie körperlich und nervlich völlig am Ende ist… Und dem Leser krampft sich das Herz zusammen angesichts der Gewalt, des Missbrauchs, der Manipulation und auch des Todes, welche/n sie in ihrem jungen Leben ertragen oder mit ansehen muss. Nur die Sprache will manchmal nicht so ganz ins Bild einer sieben- oder achtjährigen passen: zu derb, zu erwachsen. Was ein wenig an der Authentizität des Romans kratzt, aber das Gesamtbild nicht verunstaltet.

Lana Lux’ Debütroman Kukolka (Aufbau Verlag) spielt in der Ukraine Anfang der 1990’er Jahre. Schauplatz der Handlung ist Dnipropetrowsk, was zugleich der Geburtsort der Autorin ist. Mit zehn Jahren verlässt sie diesen zusammen mit ihren Eltern für Deutschland. Nicht umsonst träumt vielleicht Kukolka – so Samiras Spitzname aufgrund ihrer grün-blauen Augen und des puppenhaften Gesichts – davon, nach Deutschland auszuwandern, ihrer besten Freundin Marina zu folgen, die das Glück hatte, von Deutschen adoptiert zu werden. Sie bekommt sogar ein Paket von Marina, mit Bonbons, Milka-Schokolade, einem Brief, einer Barbie. Und es sind diese kleinen Dinge – der Geschmack der Schokolade, der Umschlag mit Marinas deutscher Adresse, die echte Barbie, der Wunsch Marina wiederzusehen – die Samira nicht untergehen lassen, an die sie sich klammert wie an einen Hoffnungsträger, die sie all die Gewalt, die Drogen, den Schmerz … überleben lassen. Diese Dinge geben ihr Halt in einer Welt voller Verrat, Beschönigung, Konkurrenz, Missgunst, in einer Welt in der es an allem mangelt. Jeder denkt nur an sich, wahre Liebe gibt es nicht. Aber Kukolka ist glücklich – meistens zumindest. Bei Rocky hat sie ihr eigenes Sofa zum Schlafen, immer etwas zum Essen und klauen sowie betteln kann sie gut – das scheine ihr im Blut zu liegen – sodass sie nie zu wenig Geld mit nach Hause bringt. Dass sie von dem Geld nie etwas wiedersehen wird, weil Rocky es nicht für ihr Ticket nach Deutschland zurücklegt, sondern davon Schutzgeld bezahlt, ahnt sie nicht.

Dennoch schafft sie es nach Deutschland. Eines Tages tritt Dima in ihr Leben. Sie steht in einer Unterführung, es ist kalt und grau und sie singt. Das ist ihr zweites großes Talent. Da taucht ein junger, gutaussehender Mann auf, ist begeistert von ihrer Stimme, schenkt ihr Rosen, kommt sie immer wieder in der Unterführung besuchen, geht mit ihr essen. Samira ist ganz benebelt vor lauter Glück und Verliebtheit. Später sind es die Drogen mit denen er sie vollpumpt. Doch sie liebt ihn und er muss sie auch lieben. Sonst hätte er sie doch nicht mit zu sich genommen, oder? Dass sie sich bereits in voller Fahrt auf einer Abwärtsspirale befindet, merkt sie nicht. Versteht sie nicht. Auch nicht, als er sie illegal nach Deutschland schleust. Dafür ist Samira zu naiv, zu gutgläubig, noch zu kindlich. Erst später als sie es wie zufällig aus dem Strudel herausschafft, realisiert sie, was eigentlich passiert ist. Deutschland, das Land ihrer Träume, wird zum Albtraum.

„Dieser furchtbare Körper mit zu vielen Öffnungen. Ich wollte sie alle für immer verschließen, wollte meinen Körper in eine unzerstörbare Plastikfolie einschweißen, so wie alles Wertvolle in Deutschland eingeschweißt wird. Aber er war nicht wertvoll genug. Ich war nicht wertvoll. Bloß ein Niemand. Schlimmer noch. Wer niemand ist, kann alles werden. Ich nicht. Ich war eine Nutte. Das war eine Endstation.“

Lana Lux lässt Samira eine Welt schildern von der man nichts weiß, von der man hoffte, dass es sie nicht gibt, aber sie existiert. Sowohl damals nach der Perestroika und wahrscheinlich, leider, auch noch heute. Zwangsprostitution bereits im Kindesalter ist kein Einzelschicksal. Samira steht stellvertretend für viele Frauen und Mädchen aus dem östlichen Europa. Für ein Leben in dem jede Veränderung eine Verbesserung der Situation verspricht, aber eigentlich nur ein weiterer Schritt in Richtung Abgrund ist. Das Glück sitzt auf Samiras Fahrt nach unten auf dem Beifahrersitz oder wahlweise sie – bis sie aussteigt. Einen kleinen Hoffnungsträger trägt sie noch bei sich: Olga Pismena, Uhlandstraße 144. Vielleicht hat sie das Glück noch nicht ganz verlassen.

„Es war wie ein echtes Wunder. Erst vor einer Stunde war ich noch im Auto auf dem Weg zum nächsten Kunden. Erst vor einer Stunde war ich noch gefangen. Erst vor einer Stunde hatte ich kaum Hoffnung auf Freiheit. Und jetzt war ich durch einen glücklichen Zufall genau vor der richtigen Haustür gelandet.“

von Elisabeth

Lana Lux (2017): Kukolka. Berlin: Aufbau Verlag. 

4 Comments Add yours

  1. makollatur says:

    Ich habe mir “Kukolka” über NetGalley besorgt und bin schon sehr auf die Geschichte gespannt. Schöne Rezension!

    Gruß, Justus

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    1. readost says:

      Danke Justus! Und eine spannende Lektüre.

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  2. Marc says:

    Dann sollte ich diesem Buch wohl doch noch eine Chance geben? Die Leseprobe hatte mich zwar angesprochen, aber der von dir erwähnte Zwist von Sprache zu Alter hatte mich dann doch eher abgeschreckt.

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    1. readost says:

      Die Rezension stammt von unserer Mitbloggerin Elisabeth. Ich habe das Buch selbst auch noch nicht gelesen. Ich denke aber, dass man es auf jeden Fall lesen sollte. Allein wegen der völlig neuen Perspektive und Thematik, die die Autorin in die deutschsprachige Prosa schafft. LG, Ira

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